Manfred Englisch
Grausam-gründliche Analyse der Niederlagen als Selbstkritik eigener Geschichte
Verfasst nach dem Lesen von Heiner Karuscheit: Sozialismus ohne Basis – Arbeiterschaft und Sozialismus in der DDR, Berlin 2021, daraus: „ keine Analyse [ist] zu der Erkenntnis vorgedrungen, dass die kommunistische Bewegung durch ihre eigenen Irrtümer, Schwächen und Erbärmlichkeiten das Scheitern verursacht hat. Es waren weder äußere Faktoren noch einzelne politische Fehler, die uns in die gegenwärtige Lage gebracht haben.“
Impuls:
„Das moderne Proletariat geht anders aus geschichtlichen Proben hervor. Gigantisch wie seine Aufgaben sind auch seine Irrtümer. Kein vorgezeichnetes, ein für alle Mal gültiges Schema, kein unfehlbarer Führer zeigt ihm die Pfade, die es zu wandeln hat. Die geschichtliche Erfahrung ist seine einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der Selbstbefreiung ist nicht bloß mit unermesslichen Leiden, sondern auch mit unzähligen Irrtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung hängt davon ab, ob das Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtümern zu lernen. Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.“ (Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie = Junius-Broschüre, geschrieben im April 1915 im Gefängnis, ein Jahr später illegal in Deutschland verbreitet.)
Niederlage 1: Die Verpreußung der deutschen Sozialdemokratie führt 1914 zur Vaterlandsverteidigung (Burgfrieden) im imperialistischen Weltkrieg. Die SPD findet nach Ende der Sozialistengesetze ihre Nischen der betulichen Integration in die adelig-bürgerliche Gesellschaft. Das beeindruckend breite Fundament des sozialdemokratischen Milieus umfasst Gewerkschaften, Parteipresse, Konsumvereine, Baugenossenschaften, Turn- und Sportvereine und vieles mehr. Programmatisch beruht die Verpreußung der SPD auf dem Credo des Erfurter Programms von 1891, dass der Sozialismus naturnotwendig, wie eine überreife Frucht vom Baum, den Sozialisten in den Schoß fallen werde. Die Kleinproduzenten und Kleinbauern würden untergehen, um die Mehrheit der doppelt freien Lohnarbeiterklasse zu einer erdrückenden werden zu lassen. Somit könnte die Macht ergriffen werden über den Weg der parlamentarischen Wahlen. Aber die alten Mittelklassen verschwinden nicht; sie werden sogar noch verstärkt durch die Entstehung neuer Mittelklassen aus Angestellten, Beamten und Freiberuflern. Die bürgerlich-demokratische Revolution verendet in einem Klassenkompromiss zwischen nationalliberalem Bürgertum und adeligen Großagrariern, schließlich auch getragen von den ehemals „vaterlandslosen Gesellen“ der SPD. Woher also sollten die Vollender der bürgerlichen Revolution kommen?
Lenin kritisiert an Rosa Luxemburgs „Junius-Broschüre“ von 1915 zur „Krise der Sozialdemokratie“ auch deren Rückwärtsgewandtheit: „Der fortschrittlichen Klasse schlägt er [Junius] vor, sich der Vergangenheit und nicht der Zukunft zuzuwenden! 1793 und 1848 stand objektiv sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und in ganz Europa die bürgerlich-demokratische Revolution auf der Tagesordnung. Dieser objektiven historischen Lage der Dinge entsprach das ‚wahrhaft-nationale‘, d.h. national-bürgerliche Programm der damaligen Demokratie, das im Jahre 1793 von den revolutionärsten Elementen der Bourgeoisie und der Plebejer verwirklicht und im Jahre 1848 von Marx im Namen der gesamten fortschrittlichen Demokratie verkündet wurde. (…) Das war der Inhalt der historischen Aufgaben der Epoche. Jetzt ist für die führenden, größten Staaten Europas die objektive Lage eine andere. Die Vorwärtsentwicklung – wenn man von möglichen, vorübergehenden Rückschlägen absieht – ist zu verwirklichen nur in der Richtung der sozialistischen Gesellschaft, der sozialistischen Revolution.“ (geschrieben im Juli 1916)
Niederlage 2: Die Weimarer Republik nach 1919 ist das Ergebnis einer erfolgreichen Konterrevolution von Sozialdemokraten und Reichswehr bzw. reaktionären Freicorps. Die Klassenbasis des preußischen Militäradels, der Großgrundbesitz mit halb-freiem Landproletariat, wird nicht beseitigt. Die „Weimarer Koalition“ aus Sozialdemokraten, Liberalen und dem Zentrum in Reich und Ländern wird von rechts aggressiv als „Novemberverbrecher“ mit der Dolchstoßlegende und dem Kapitulationsvorwurf vor dem Diktat des Versailler Vertrages attackiert. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung wird in die bürgerliche Republik integriert; Paradebeispiele: SPD-Oberbürgermeister und Polizeipräsidenten. Nach 1923 gibt auch die KPD die Einheitsfrontpolitik gegenüber der SPD zur Herstellung der Klasseneinheit auf. Ihre ultralinke Politik greift frontal die SPD als Verräter, schließlich als Sozialfaschisten an, spaltet die Gewerkschaftseinheit und bekämpft die demokratische Republik als politische Form des kapitalistischen Krisensystems. Das Versagen der beiden Zweige der deutschen Arbeiterbewegung führt direkt zur
Niederlage 3: Der Sieg des Faschismus nach der Machtübertragung an die Koalition aus NSDAP und Deutschnationalen führt zur offen terroristischen Diktatur im gleichgeschalteten Führerstaat. Wegen der vorausgegangenen sektiererischen Politik von Thälmann-KPD und Komintern versagen die Arbeiterorganisationen an der Aufgabe, ihre antifaschistische Einheit zur Verteidigung der bürgerlich demokratischen Republik herzustellen. Die Volksfrontpolitik ist ab 1935 in Frankreich und Spanien nur bedingt erfolgreich. Das Ergebnis der Niederlagen ist 1939 der 2. Imperialistische Weltkrieg. Die Sowjetunion wird zur Teilhaberin der imperialistischen Weltaufteilung (Ostpolen, Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Bessarabien, Nord-Bukowina). Die 3. Internationale ist gescheitert und wird 1943 als Zeichen der Absage an die Weltrevolution gegenüber der Anti-Hitler-Koalition aufgelöst.
Niederlage 4: Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gelingt es der Arbeiterbewegung nicht, ein einheitliches antifaschistisches Deutschland herbeizuführen. Die nationale Spaltung in zwei Vasallenstaaten der Siegerblöcke wird bis 1953 besiegelt. Auch Europa wird gespalten in Einflusszonen zwischen Ost und West. In den meisten Ländern stehen Besatzungstruppen einer hegemonialen Schutzmacht, die einige Male im Innern gegen Rebellionen, Massenstreiks und Aufstände eingesetzt werden (Griechenland, DDR, Polen, Ungarn, CSSR). In der SBZ vereinigen sich KPD und SPD zur SED, die später zur bolschewistischen Kaderpartei neuen Typs umgeformt wird. In der BRD wird die West-KPD 1956 verboten und mit allen Untergliederungen wie im Faschismus aufgelöst und verfolgt. Ehemalige KZ-Insassen werden wieder eingekerkert und verlieren ihre Verfolgtenrenten aus der NS-Zeit, während ehemalige NS-Größen unbehelligt von der Justiz leben. Die Sozialdemokratie favorisiert die Westintegration, und 1959 wird aus der marxistisch geprägten Arbeiterpartei mit dem Godesberger Programm eine linke Volkspartei.
Niederlage 5: Die brutale Dominanz der KPdSU führt zur Bevormundung der Bruderparteien und zur Unterwerfung der Interessen des internationalen Proletariats unter die Hegemonie des „Vaterlandes der Werktätigen“. Dieser beanspruchten Suprematie unterwerfen sich allerdings jene kommunistischen Parteien nicht, die ihr Land aus eigener Kraft befreit haben: Jugoslawien, China, Albanien, Nordkorea, Kuba, Vietnam. Andere Parteien lassen sich am Gängelband von Moskau führen. Das trifft auch für die SED und über sie verlängert für die 1968 neugegründete DKP in der BRD zu. Breschnew erklärt 1968 die Nachkriegsordnung der Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam mit seiner Doktrin über die „begrenzte Souveränität sozialistischer Staaten“ für unumkehrbar. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU spaltet sich die kommunistische Weltbewegung. Bürokratische Planwirtschaft, fehlende Massenbasis und Erziehungsdiktatur über die Arbeiterklasse führen zu Stagnation und Verfall der Produktivkräfte in den osteuropäischen Ländern des „realen Sozialismus“. Weder existiert dort eine demokratische Räteherrschaft noch hat eine neue wissenschaftlich-technische Revolution die Produktivität beflügelt, im Sinne von Lenins Ausspruch: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes!“. Das materielle Lebensniveau bleibt niedrig, während die „Schaufenster des Westens“ reich gefüllt sind. Folgerichtig werden die „Mumien“ der Politbüros von ihren eigenen Völkern gestürzt. Das „Volkseigentum“ reißen sich Oligarchen, Großkapital und Treuhandanstalt unter den Nagel, die den Sozialismus abwickeln.
Impuls:
»Proletarische Revolutionen … kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche …. Die soziale Revolution des [21.] Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des [21.] Jahrhunderts muss die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen.« (Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, geschrieben von Dezember 1851 bis März 1852; zuerst erschienen im Mai 1852 im ersten Heft der Zeitschrift „Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften“ von Joseph Weydemeyer; 2. überarbeitete Auflage 1869 in Hamburg. 3. Auflage unter der Redaktion von Engels 1885).
Welche Lehren ziehen deutsche Sozialisten und Kommunisten aus den Niederlagen?