IV. Imperialismustheorie und Krieg

Damit kommen wir auf die eingangs gestellte Frage zurück, die uns überhaupt bewogen hat, die vorliegende Untersuchung anzustellen. Inwieweit lassen sich der deutsche Weg in den Krieg und die im Krieg verfolgte Politik durch die Leninsche Imperialismustheorie erklären?

1. Der Widerspruch zwischen Ökonomie und Politik

Die erste Schwierigkeit der Marxisten bestand darin, die Politik, die zum Krieg führte, aus wirtschaftlichen Beweggründen bzw. den Gesetzmäßigkeiten des Kapitals herzuleiten. „Dabei eröffnete die wirtschaftliche Entwicklung des Reiches glänzende Aussichten, gleichsam auf indirektem Wege zur europäischen Vormacht aufzusteigen. (…) Als Kaiser Wilhelm II., nur eine Woche vor dem schicksalhaften Attentat von Sarajevo, dem Hamburger Bankier Max Warburg die Frage vorlegte, ob es angesichts der russischen Gefahr nicht ‚besser wäre, loszuschlagen anstatt zu warten‘, antwortete ihm dieser: ‚abwarten könne uns nur Gewinn bringen‘. Mit ungläubigem Erstaunen äußerte der amerikanische Botschafter Gerard, kurz nach dem Ausbruch des großen Krieges, in diesem Sinne sein bares Unverständnis über die deutsche Entscheidung, sich Mars hinzugeben und Merkur zu mißtrauen: ‚In 25 Jahren hätte (den Deutschen) bei der Aufwärtsentwicklung, wie sie hier im Gange war, niemand mehr etwas anhaben können. Jetzt hätten (sie) alles auf eine Karte gesetzt. Er begriffe nicht, wie der Kaiser sich dazu habe entschließen können.'“ (Hildebrand, S. 351) Anders formuliert: vom Boden kapitalistischer Interessen aus war der Krieg eine Dummheit.

Wegen dieser Schwierigkeiten hatte Karl Kautsky, Lenins Hauptgegner in der Imperialismusschrift, die zunehmenden internationalen Spannungen schon vor 1914 als unabhängig von der Ökonomie betrachtet und den Imperialismus als „eine besondere Art kapitalistischer Politik“, als „die vom Finanzkapital bevorzugte Politik“ beschrieben. (NZ 1915, S. 111) Seiner Auffassung nach entsprangen Imperialismus und Krieg also nicht aus ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, sondern verdankten sich einer fehlerhaften, vom Finanzkapital subjektiv vorgezogenen Politik.

Die klassenpolitischen Ursachen für die zunehmende Vertiefung der Widersprüche konnte er auf Basis seiner grundsätzlichen Einschätzungen auch nicht entdecken. Er hielt die junkerlichen Gutswirtschaften für kapitalistische Agrarbetriebe und negierte die Rolle der vorbürgerlichen Kräfte und Herrschaftsformen. Nicht einmal die im Vergleich zu Deutschland weitaus rückständigeren Verhältnisse im Habsburgerreich (Kautsky lebte in Wien) und die spezielle Rolle des österreichisch-ungarischen Hochadels, der mindestens ebenso sehr wie die preußischen Junker auf einen (kurzen) Krieg zur Stabilisierung seiner Herrschaft drängte, ließen ihn den bürgerlichen Charakter der Doppelmonarchie in Frage stellen, denn aus dem Voranschreiten des Kapitals folgte für ihn die Herrschaft der Bourgeoisie. Weil aber der Krieg aus der Ökonomie heraus nicht nachvollziehbar war, löste er die Politik von der Wirtschaft und ließ ihn aus einer Verkettung letztlich zufälliger Entscheidungen hervorgehen.

Diese subjektive Erklärung wies Lenin zurück. Er konstatierte, dass Kautsky „die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik trennt“ und warf ihm die „Vertuschung“ bzw. „Abstumpfung der fundamentalsten Widersprüche des jüngsten Stadiums des Kapitalismus“ vor. (Der Imperialismus, S. 98, 99; LW 22, S. 274) Aber wie wollte er selber Imperialismus und Krieg erklären? In Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung hatte er keine Differenzen zu Kautsky. Genau wie dieser überschätzte er bei weitem den Entwicklungsstand der Verhältnisse, genau wie Kautsky hatte er ökonomisch nur das Kapitalverhältnis und politisch nur die Bourgeoisie im Blick, beschränkte sich also auf einen Sektor der Klassengegensätze. In der ersten öffentlichen Stellungnahme vom September 1914 zum Krieg behauptete er bereits, dass „an der Spitze der einen Gruppe der kriegführenden Nationen … die deutsche Bourgeoisie“ stehe. (Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, LW 21, S. 14). In derselben Stellungnahme heißt es zwar gleichzeitig, dass die deutsche Bourgeoisie „vor den preußischen Junkern mit Wilhelm an der Spitze katzbuckelt“, mehr wird dazu aber nicht gesagt.

In späteren Veröffentlichungen zur Einschätzung des Kriegs tauchen die Junker in der Regel gar nicht mehr auf. In der Imperialismusschrift werden außer Monopolbourgeoisie und Proletariat keine anderen Klassen benannt, und das, obwohl Lenin sich überwiegend mit den deutschen Verhältnissen beschäftigt. Das Schweigen ist indes folgerichtig, weil er ein knappes Jahrzehnt zuvor in seinen Ausführungen über den „amerikanischen“ und den „preußischen“ Weg in der Landwirtschaft alle agrarischen Klassen „verbürgerlicht“ und behauptet hatte, dass die Junker zu einer Abteilung der Bourgeoisie geworden seien. Jenseits gegensätzlicher politisch-praktischer Schlußfolgerungen (Burgkrieg oder Burgfriede mit der Regierung) teilten Revolutionäre und Zentristen also klassentheoretisch die gleichen Auffassungen: beide negierten die eigenständige, ökonomisch wie politisch nichtbürgerliche Stellung der alten Herrschaftsklassen. Lenin konnte den deutschen Weg in den Krieg daher ebensowenig wie Kautsky als Produkt der Gegensätze zwischen den handelnden Klassen begreifen.

Statt dessen sah er die Unvermeidbarkeit des Kriegs nach wie vor in der Ökonomie begründet, wobei sich dann aber die Produktionsweise des Kapitals geändert haben mußte. Unter Berufung auf Hilferdings Finanzkapital behauptete Lenin, dass das Kapital zum Monopol geworden sei und als Konsequenz der Monopolbildung das „Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt“ an die Stelle der blinden Konkurrenz der Kapitale getreten sei. (Der Imperialismus, S. 30; LW 22, S. 211) Die ökonomische „Gewalt“ des Monopols fand ihre Entsprechung in der politischen „Gewalt“ des Kriegs, den die imperialistischen Staaten miteinander führten. Der Krieg resultierte also aus den Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie – aber der Ökonomie nicht des Kapitals, sondern des Monopols. Auf diese Weise hatte Lenin Politik und Ökonomie wieder zusammengeführt und konnte den selbst gestellten Anspruch seiner Schrift einlösen, „sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus.“ Damit hatte er zwar die Halbheiten Kautskys beseitigt, aber um welchen Preis?

2. Egalisierung der bürgerlichen und nichtbürgerlichen Staaten

Zum einen revidierte seine Monopoltheorie die Kritik der politischen Ökonomie durch Marx, der in Fortsetzung der klassischen bürgerlichen Ökonomie nachgewiesen hatte, dass nicht subjektive Gewaltverhältnisse, sondern das Wertgesetz den Gesamtreproduktionsprozeß des Kapitals reguliert. „Sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist. Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.“ (Lohn, Preis und Profit; MEW 16, S. 105; s.a. die Kritik an der Monopoltheorie in den AzD 25, 34, 39, 41, 59)

Vor allem negierte die Monopoltheorie die berechtigte Fragestellung, die hinter Kautskys Positionen stand. Die damaligen Marxisten waren mit einer auffälligen Gegenläufigkeit von ökonomischer und politischer Entwicklung konfrontiert. Ausgerechnet in Deutschland, wo es keine bürgerliche Revolution gegeben hatte, entwickelte sich der Kapitalismus vergleichsweise schnell. Dagegen ging die wirtschaftliche Entwicklung in den klassischen bürgerlichen Ländern England und Frankreich zwar ebenfalls voran, blieb aber deutlich hinter Deutschland zurück. Die Erklärung dafür war nicht im „Kapital“ zu finden. Darin unterstellte Marx um der Klarheit der Darstellung willen, dass das Kapitalverhältnis in reiner Form existierte und alle vorhergehenden Produktionsverhältnisse verschwunden waren. Davon waren die europäischen Staaten noch weit entfernt. In Deutschland existierten neben kapitalistischen Betrieben patriarchalische Gutswirtschaften sowie die millionenfachen Verhältnisse der einfachen, kleinen Warenproduktion, die sich dem Kapital noch längst nicht unterworfen hatten. Außer den Klassen der Moderne, Bourgeoisie und Proletariat, fanden sich die Klassen der alten Gesellschaft: Junker, städtische Kleinbürger und Bauern, welche zudem rein zahlenmäßig die modernen Klassen überflügelten.

In Frankreich mußte die Bourgeoisie das Bündnis mit den kleinbürgerlichen Massen, welches ihr die Staatsmacht sicherte, durch wirtschaftspolitische Konzessionen erkaufen, welche die Entwicklung des Kapitalismus hemmten. Auch in Deutschland hätte die Bourgeoisie Preußen und die Junker nur mit Hilfe der kleinbürgerlichen Massen besiegen können, mit der Folge, dass sie diesen Massen entgegenkommen mußte, sei es bei der Gewerbefreiheit oder beim Schutz der bäuerlichen Kleinproduktion. Der Verzicht auf die politische Macht im Klassenbündnis mit den Junkern erlaubte es, die Hemmnisse, die der Entwicklung des Kapitals entgegenstanden, in höherem Maße auszuräumen, als das in einem Bündnis mit Kleinbürgertum und Bauernschaft möglich gewesen wäre. Die Selbständigkeit des preußisch-deutschen Staats gegenüber Bourgeoisie und Kleinbürgertum ermöglichte also die um so wirkungsvollere Förderung der kapitalistischen Produktionsweise als solcher, angefangen vom Ausbau der Infrastruktur über Gewerbe- und Handelsgesetze bis hin zum Bildungswesen und der Forschung. Das scheinbar paradoxe Ergebnis war, dass ökonomischer Fortschritt und gesellschaftspolitische Rückständigkeit nicht im Gegensatz standen, sondern einander bedingten.

Lenin konstatierte auch, dass die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Länder erhebliche Unterschiede aufwies, und erwähnte insbesondere den rapiden Aufschwung Deutschlands und Japans. Dann jedoch begnügte er sich mit der Feststellung, dass es „eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder (…) unter dem Kapitalismus nicht geben“ könne. (Der Imperialismus, S. 127) Warum das so war, erläuterte er nicht. Mit diesem „Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung“, zu dem seine Feststellung später erhoben wurde, war nichts erklärt, denn es kam ja gerade darauf an, die Ursachen der ungleichmäßigen Wirtschaftsentwicklung zu verstehen, statt die an der Oberfläche erscheinenden Ergebnisse zum Gesetz zu erheben.

Wichtiger waren jedoch die Konsequenzen, die aus der Auffassung vom Monopol folgten. Der ökonomische Übergang zum Monopol, so Lenin, verknüpfte sich mit weitreichenden politischen Veränderungen. Entsprach dem Kapitalismus der freien Konkurrenz die Demokratie, so entsprach dem Monopolkapitalismus die Reaktion nach innen und die Aggression nach außen: „Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äußerste Zuspitzung der Gegensätze auch auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenzen.“ (Der Imperialismus, S. 129; LW 22, S. 302)

Die Theorie vom überall gleichen monopolistischen Gewaltverhältnis egalisierte die gesellschaftspolitischen Unterschiede zwischen den Staaten. „Andererseits zeigt ein Vergleich, sagen wir, der republikanischen amerikanischen Bourgeoisie mit der monarchistischen japanischen oder deutschen, dass auch der stärkste politische Unterschied in der Epoche des Imperialismus in hohem Grade abgeschwächt wird – nicht etwa, weil er überhaupt unwichtig wäre, sondern weil es sich in allen diesen Fällen um eine Bourgeoisie mit ausgesprochen parasitären Zügen handelt.“ (Der Imperialismus, S. 134; LW 22, S. 306). Das heißt, zwischen den USA und Rußland, Großbritannien und Japan, Frankreich und Deutschland gab es nur noch quantitative Abstufungen, weil nicht die Staatsform (Monarchie oder parlamentarische Republik) entscheidend sei, sondern der überall gleiche Inhalt, nämlich die Herrschaft des Monopolkapitals. Demzufolge hätte die Ökonomie fertiggebracht, was die Revolution versäumt hatte: die früheren Gegensätze zwischen den Staaten der bürgerlichen Revolution (Großbritannien, Frankreich) und den nichtbürgerlichen Staaten (Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn, Japan), wären aufgelöst.

Der grundlegende Fehler dieses Ansatzes resultiert nicht aus den politökonomischen Mängeln der Monopoltheorie. Viel schwerwiegender ist es, die Lösung in der Wirtschaft statt in der Gesellschaft zu suchen und die gesellschaftspolitischen Unterschiede durch die ökonomische Entwicklung für überholt zu erklären. Auf dem Boden dieser Theorie erklärten sich die Mängel der parlamentarischen Herrschaft und der Demokratie überhaupt in Deutschland nicht aus der abgebrochenen bürgerlichen Revolution, sondern aus dem besonders entwickelten Monopolkapitalismus. Dann mußte das Kaiserreich als ökonomisch fortgeschrittenstes Land als das Land erscheinen, das auch politisch am weitesten vorangeschritten war, nämlich hin zur „Reaktion nach innen und Aggression nach außen“. Unter monopolistischen Vorzeichen verwischte die Gleichsetzung von Ökonomie und Politik also gerade das Wesen das Problems, die Gegenläufigkeit von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung.

3. Demokratische und sozialistische Revolution

Der erste Weltkrieg war auf allen Seiten ein reaktionärer Krieg, wenngleich getragen von unterschiedlichen Klassenkombinationen und mit unterschiedlicher Zielsetzung. Gegen die sozialdemokratische Politik der Vaterlandsverteidigung, welche die Proletarier aller Länder gegeneinander kämpfen ließ, forderte Lenin zu recht den Bürgerkrieg statt des Burgfriedens. Er legte damit die Grundlagen für einen neuen revolutionären Bund der Arbeiter aller Länder.

Sobald man aber über die rein negative Forderung nach dem Regierungssturz hinausging und an die Formulierung einer positiven Revolutionsstrategie ging, mußten sich die Konsequenzen aus den Fehlern der Imperialismustheorie bemerkbar machen. Nur für Rußland sah Lenin „angesichts der großen Rückständigkeit dieses Landes, das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollendet hat“, die Aufgaben der Sozialdemokratie vorrangig im demokratischen Kampf. „In allen fortgeschrittenen Ländern dagegen stellt der Krieg die Losung der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung“. (Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, September 1914; in: LW 21, S. 19, 20). Oder wie er im Vorwort zu seiner Imperialismusschrift grundsätzlich formuliert: „der Imperialismus (ist) der Vorabend der sozialistischen Revolution“. (Der Imperialismus, S. 5; LW 22, S. 191)

Jedoch war die bürgerliche Revolution nicht allein in Rußland „noch nicht vollendet“. Im überwiegenden Teil Europas, von Rußland über Deutschland und Österreich-Ungarn bis zum Süden des Halbkontinents, war sie steckengeblieben. Nicht Rußland bildete gegenüber dem restlichen Europa eine Ausnahme, sondern umgekehrt waren England und Frankreich die einzigen Länder, in denen die alten Mächte bis dahin geschlagen waren. Die Epoche der bürgerlichen Revolution war noch nicht vorüber; sie dauerte in Europa nach wie vor an, und die daraus hervorgehenden Klassenkämpfe und Kriege prägten das neue Jahrhundert. Was mit dem Jahrhundertwechsel in die Krise geriet, war die Ordnung, die sich nach den napoleonischen Kriegen und der Revolution von 1848 etabliert hatte und auf dem Klassenkompromiß zwischen den alten Mächten und der Bourgeoisie beruhte.

Weil die Bourgeoisie sich mehrheitlich mit der alten Ordnung arrangiert hatte, konnte sie die Revolution nicht weiterführen, sondern mußte das Proletariat den von ihr geräumten Platz einnehmen. Bevor es seine eigene, die sozialistische Revolution durchführen konnte, mußte es sich als Führerin der bürgerlichen Revolution bewähren und diese vollenden. Nur als Vorkämpferin des demokratischen Kampfes und im Bündnis mit dem städtischen und ländlichen Kleinbürgertum konnte die Arbeiterklasse die Hegemonie über die Gesellschaft erringen, an die Spitze der Nation treten und die politische Macht erobern. Einen anderen Weg zur Macht und in den Kommunismus gab es nicht. Weigerte sie sich, den leeren Platz der Bourgeoisie einzunehmen, und führte den Kampf unmittelbar um den Sozialismus, dann stellte sie ihre eigenen Interessen über die der Gesamtgesellschaft, machte sich die Millionenmassen der kleinen Warenproduzenten zum Feind, blieb auf sich allein gestellt und war zur Niederlage verdammt.

Von Rußland abgesehen, stand das deutsche Reich im Zentrum der Widersprüche dieser Zeit. Hier waren die Aufgaben der steckengebliebenen Revolution von 1848 weder durch die Nationalstaatsbildung von 1870 noch erst recht durch die ökonomische Entwicklung gelöst worden. Es war eben nicht so, wie Engels behauptet hatte, dass Deutschland am Ausgang des Jahrhunderts seine bürgerliche Revolution im Zeichen des Bonapartismus vollendet hätte, sondern diese Revolution stand nach wie vor aus. Aus dieser politischen Kernfrage ergab sich der soziale Inhalt der notwendigen Umwälzung: Enteignung des Großgrundbesitzes, vor allem der Junker, und Verstaatlichung der Großindustrie, vor allem der Schwerindustrie. Damit war den Trägern der alten Ordnung der Boden unter den Füßen entzogen, und weiter durfte man vorerst nicht gehen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt konnte das Proletariat, gestützt politisch auf die Staatsmacht und ökonomisch auf die Großindustrie, mit dem Übergang zum Sozialismus beginnen. Bis dahin hatte man gegenüber dem Kleinbürgertum dessen Eigentums- und Produktionsverhältnisse anzuerkennen und alles zu tun, um es für das Zusammengehen zu gewinnen. Tat man das nicht, trieb man die Millionenmassen der kleinen Warenproduzenten auf die andere Seite der Barrikaden und öffnete das Tor für eine faschistische Konterrevolution.

Alle großen politischen Debatten in der Arbeiterbewegung vor wie nach dem 1. Weltkrieg drehten sich um die hier aufgeworfenen Fragen. Ob Gothaer oder Erfurter Programm, ob die Agrardebatte der 90er Jahre des 19.Jahrhunderts, die Auseinandersetzungen über die Politik der KPD in den 20er Jahren des folgenden Jahrhunderts, der Kampf gegen den Faschismus und später die Diskussionen um die „antifaschistisch-demokratische“ oder „volksdemokratische“ Ordnung – immer wieder war die Bündnisfrage und die ihr zugrundeliegende Frage nach dem Verhältnis von demokratischer zu sozialistischer, bürgerlicher zu proletarischer Revolution der Drehpunkt. Weil dieses Schlüsselproblem nicht gelöst war, trat es in quälender Wiederkehr immer aufs neue, in anderer Form oder unter neuem Namen, auf die Tagesordnung.

4. Das Erbe von Marx und Engels

Wie Engels 1895 im Rückblick kurz vor seinem Tod feststellte, hatten Marx und er den Reifegrad der gesellschaftlichen Verhältnisse fortlaufend überschätzt, beginnend mit der Revolution von 1848, als sie die Stunde des Proletariats zum erstenmal für gekommen hielten: „Die Geschichte hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht, dass der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals noch bei weitem nicht reif war für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“. Dasselbe war bei der Pariser Commune der Fall, bei der sich wiederum zeigte, „wie unmöglich auch damals noch, zwanzig Jahre nach der in unserer Schrift geschilderten Zeit, diese Herrschaft der Arbeiterklasse war.“ (Einleitung von 1895 zu Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850; MEW 22, S. 515, 516)

Die Überschätzung des Entwicklungsstands betraf insbesondere auch Deutschland, für das Engels 1874 die Vollendung der bürgerlichen Revolution unter der „bonapartistischen“ Herrschaft Bismarcks unterstellte. Trotz aller Abstriche in den folgenden zwanzig Jahren revidierte er dieses Urteil nicht grundsätzlich. Er begriff das deutsche Reich als einen Staat, der zwar eine Reihe feudaler bzw. halbfeudaler Relikte aufwies; darauf wies er die SPD-Führung, die nicht einmal die offenkundigen demokratischen Mängel der Reichsverfassung realisierte, regelmäßig hin, so z.B. in der Kritik des Erfurter Programms. Aber diese Relikte stellten für ihn den bürgerlichen Grundcharakter von Staat und Gesellschaft nicht in Frage. Von dieser Überzeugung ausgehend griff er zuletzt noch in die Agrardebatte der 90er Jahre ein.

In seinem 1894 geschriebenen Artikel über Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland betonte er zunächst, dass die sozialistische Partei allein gestützt auf die Arbeiterklasse nicht siegen könne. „Um aber die politische Macht zu erobern, muß diese Partei vorher von der Stadt aufs Land gehn, muß eine Macht werden auf dem Land.“ Nur – welche Politik sollte sie gegenüber der Agrarbevölkerung einschlagen? Hier sah Engels keine grundlegenden Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich. Die Agrarfrage behandelte er für beide Länder gleich. Obwohl er in der Arbeit die „tatsächliche halbe Leibeigenschaft der ostelbischen Landarbeiter“ als „Hauptgrundlage der preußischen Junkerherrschaft“ hervorhob, nannte er gleichzeitig den Großgrundbesitz in beiden Ländern „unverhüllten kapitalistischen Betrieb“. Wenn Lenin die Junker daher als Abteilung der Bourgeoisie begriff, konnte er sich ebenso wie Kautsky auf Engels stützen.

Die großen Güter, fuhr Engels fort, waren zu enteignen und „den sie schon jetzt bebauenden, in Genossenschaften zu organisierenden Landarbeitern zur Benutzung unter Kontrolle der Gesamtheit zu überlassen.“ Damit, so meinte er, „können wir den Landproletariern eine Aussicht eröffnen, ebenso glänzend wie die, welche dem Industriearbeiter winkt.“ (MEW 22, S. 503, 504) Auch gegenüber der kleinen Bauernschaft propagierte er die Umwandlung in genossenschaftlichen Betrieb, allerdings auf anderem Wege: „Unsere Aufgabe gegenüber dem Kleinbauer besteht zunächst darin, seinen Privatbetrieb und Privatbesitz in einen genossenschaftlichen überzuleiten, nicht mit Gewalt, sondern durch Beispiel und Darbietung von gesellschaftlicher Hilfe zu diesem Zweck. Und da haben wir allerdings Mittel genug, um dem Kleinbauer Vorteile in Aussicht zu stellen, die ihm schon jetzt einleuchten müssen. (…) Tun wir das, so handeln wir im Sinne der unvermeidlichen ökonomischen Entwicklung, und diese wird den Kleinbauern schon offne Köpfe machen für unsere Worte.“ (MEW 22, S. 499, 502)

Die in diesem Artikel entwickelte politische Programmatik formulierte die agrarischen Aufgaben einer sozialistischen Revolution, die Engels für beide Länder anstehen sah, und die nur in Deutschland im Unterschied zu Frankreich noch zusätzlich einiges an „halbfeudalen Formen“ zu beseitigen hatte. Diese prinzipielle Gleichsetzung der Agrarpolitik in beiden Ländern war verkehrt, denn Frankreich hatte seine demokratische Revolution hinter sich, Deutschland noch vor sich. In Frankreich hatte die Revolution von 1789 die Macht der Großgrundbesitzer gebrochen und das Land den Bauern gegeben, in Deutschland war das nicht der Fall. Deshalb stellte sich die Bauernfrage in beiden Ländern grundsätzlich anders.

Es war eine Illusion zu glauben, dass die „unvermeidliche ökonomische Entwicklung“ die kleinen Bauern und Landarbeiter durch das Angebot von Produktivgenossenschaften auf die Seite der Arbeiterklasse treiben würde. Ihre ökonomisch-sozialen Interessen richteten sich nicht auf genossenschaftliche Produktion auf staatlichem Acker, sondern auf den Besitz von Land, vorzugsweise auf das Land der Großgrundbesitzer. (Michael Vogt = H. Karuscheit: Die Junkerherrschaft im Kaiserreich; in AzD 52/1991, insb. S. 23 – 29) Um sie für den gemeinsamen Kampf gegen die alten Mächte zu gewinnen, mußte man bereit sein, ihnen Teile des Großgrundbesitzes zu übereignen, wie das nach 1945 unter der Parole „Junkerland in Bauernhand“ östlich der Elbe auch geschah – gegen die Auffassung von Engels und die Dogmen des Marxismus. Um eine solche Politik zu realisieren, bedurfte es allerdings zuvor zweier vernichtender Niederlagen der revolutionären Arbeiterbewegung, 1919 in der Novemberrevolution und 1933 gegen den Nationalsozialismus, und auch dann war noch der Widerstand großer Teile der neu formierten KPD bzw. SED zu überwinden. (M. Vogt = H. Karuscheit: Die Novemberrevolution 1918, die Agrarfrage und der ökonomische Doktrinarismus; in: AzD 54/1992; insb. S. 53 – 54)

Als Engels starb, waren die Gesellschaftsverhältnisse in Europa relativ stabil. Dann aber demonstrierten die russische Revolution von 1905, die Auseinandersetzungen um das Dreiklassenwahlrecht in Preußen und die sich verschärfenden Nationalitätenkonflikte in Österreich-Ungarn, dass die alte Ordnung brüchig wurde und die Revolution wieder begann, die Trommel zu schlagen. Die revolutionären Marxisten konstatierten zu recht, dass die vorhandene Herrschaftsordnung mitsamt der Bourgeoisie in Fäulnis übergegangen war und die Stunde der Arbeiterklasse schlug. Die theoretische Interpretation dieses Gezeitenwechsels und die daraus abgeleitete Revolutionsstrategie waren jedoch falsch. Was dort zu Ende ging, das war die Welt des 19.Jahrhunderts, die sich nicht auf eine bürgerliche, sondern auf eine adelig-bürgerliche Ordnung gründete, und man befand sich nicht am „Vorabend der sozialistischen Revolution“, sondern nach wie vor in der Epoche der bürgerlichen Revolution.

Das heißt, um eine revolutionstaugliche Politik zu entwickeln, mußte man sich von Engels‘ optimistischer Einschätzung des Entwicklungsstands lösen und seine Empfehlungen für eine sozialistische Revolution verwerfen. Für Rußland erarbeitete Lenin in verschiedenen Artikeln über die künftige „demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauernschaft“ im Zusammenhang mit der Revolution von 1905 auch eine Revolutionsstrategie, deren Wesen die Durchführung einer demokratischen Revolution unter Führung des Proletariats war. Für das restliche Europa sah er die Dinge anders. Hier übernahm er Engels‘ Gleichsetzung Deutschlands mit den bürgerlichen Ländern und arbeitete sie lediglich monopoltheoretisch um.

Nach dem August 1914 war Lenin als Führer der Bolschewiki nur einer aus einer Reihe von Marxisten, die auf dem linken Flügel der internationalen Sozialdemokratie darum kämpften, der Arbeiterbewegung eine neue Perspektive zu geben. Seine Imperialismusschrift war in Deutschland kaum bekannt und hatte auf die deutsche Novemberrevolution so gut wie keinen Einfluß. Andere theoretische Erklärungen wurden von Leo Trotzki, Rosa Luxemburg oder Julian Karski gegeben. Jenseits der vorhandenen Unterschiede war ihnen gemeinsam, dass sie alle die Zeit der sozialistischen Revolution für gekommen sahen. Getragen von der siegreichen Oktoberrevolution, setzte sich Lenins Imperialismustheorie nicht gegen andere, richtige Auffassungen durch, sondern gegen ähnlich fehlerhafte.

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