III. Mit der „Sammlungspolitik“ in den Krieg

Hatte Bismarck u. a. deswegen Spielraum als deutscher Kanzler gehabt, weil sein Monarch sich vor allem als preußischer König verstand, so begriff Wilhelm II. sich in erster Linie als deutscher Kaiser und verfolgte als solcher durchgängig eine bestimmte Politik, nämlich die gesellschaftliche Basis der Krone zu verbreitern sowie mit der industriellen Entwicklung die Machtstellung Deutschlands zu fördern. Dabei geriet der „Flotten- und Industriekaiser“ immer wieder in Konflikt mit den Junkern. Die von ihm ausgesuchten Kanzler wurden bei ihren Modernisierungsbemühungen regelmäßig von den Konservativen gestürzt, sobald sie es wagten, junkerliche Reservatrechte anzutasten, sei es in der Steuerfrage, dem Dreiklassenwahlrecht oder der Landgemeindeordnung Altpreußens.

1. Die Herausforderung Englands durch die kaiserlich-bürgerliche Flotte

Der „Neue Kurs“, den Wilhelm II. nach der Entlassung Bismarcks verkündete, wäre klassenpolitisch auf eine Gewichtsverschiebung zugunsten der modernen Klassen hinausgelaufen. Der erste von ihm selber bestimmte Reichskanzler Leo Caprivi (1890 bis 1894) zog „aus dem rasanten Aufstieg Deutschlands zu einem führenden Industriestaat wesentliche Konsequenzen, die für seine innere und äußere Politik wegweisend wurden: ‚Wir müssen exportieren: entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage weiter zu leben.‘ Eine so erklärte Absicht begünstigte die industriellen Kräfte; zielte auf den Freisinn und die Sozialdemokratie; klang nach einem neuen Konzept innerer und äußerer Politik.“ (Hildebrand, S. 195)

Caprivi ließ die Agrarzölle senken, um im Gegenzug durch neue Handelsverträge günstigere Einfuhrzölle auf deutsche Industrieprodukte zu vereinbaren. Das Sozialistengesetz wurde nicht mehr verlängert, so dass es 1890 auslief, und die Öffnung zur Arbeiterschaft wurde durch einen neuen Anlauf zum Ausbau der Sozialversicherung flankiert. Obwohl das Militär opponierte, setzte der Kanzler eine fünfjährige statt der bisherigen siebenjährigen Bewilligungsperiode für den Wehretat und eine zwei- statt der dreijährigen Dienstzeit für die Rekruten durch. Diese Politik des „Kanzlers ohne Ar und ohne Halm“ (er besaß kein Rittergut) rief den geschlossenen Widerstand der Konservativen hervor. Auf die Zollermäßigung antworteten sie mit der Gründung des „Bundes der Landwirte“ (BdL) im Jahr 1893, der insbesondere in Preußen einen Großteil der Bauern unter Führung der Großgrundbesitzer erfaßte und sofort gegen die Zollsenkung Sturm lief. Als Caprivi dann noch versuchte, eine Reform der Landgemeindeordnung in Preußen durchzuführen, hatte seine letzte Stunde geschlagen: zuerst mußte er als preußischer Ministerpräsident zurücktreten und wurde anschließend von den Konservativen auch als Reichskanzler zum Rücktritt gezwungen.

Sein Nachfolger von 1894 bis 1900 wurde der bayrische Altliberale Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst. Seine praktischen Erfahrungen als Chef der Regierung, insbesondere sein wiederholtes Scheitern bei mehreren Reformversuchen, brachten ihn zu der resignierten Feststellung: „Der süddeutsche Liberalismus kommt gegen die Junker nicht auf. Sie sind zu zahlreich, zu mächtig, und haben das Königtum und die Armee auf ihrer Seite … So muß ich hier dahin streben, Preußen beim Reich zu erhalten; denn alle diese Herren pfeifen auf das Reich und würden es lieber heute als morgen aufgeben“ (zitiert nach: Stürmer, S. 295). Wechselnde Reichstagsmehrheiten und die Blockadepolitik der Konservativen ließen ein normales Regieren kaum zu.

Aufbauend auf der von dem preußischen Finanzminister und Vizekanzler Miquel propagierten Sammlungspolitik von „Roggen und Eisen“ ging der neue Kanzler von Bülow (1900 bis 1909) daran, das Bündnis zwischen Junkertum und schwerindustriell dominierter Bourgeoisie auf zwei Pfeilern neu zu begründen: höhere Getreidezölle für den Großgrundbesitz und Flottenbau für das Bürgertum. Die Junker standen dem Aufbau einer Flotte im Prinzip ablehnend gegenüber, denn die traditionelle Waffengattung des grundbesitzenden Adels war das Landheer. Die von ihnen regelmäßig so genannte „gräßliche, häßliche Flotte“ war in ihren Augen überflüssig und würde nur Geld kosten. Die Konservativen stimmten dem Flottenbau trotzdem zu, weil im Gegenzug die Getreidezölle substantiell erhöht wurden. „In der Tat bildeten Flottennovelle und Zolltarif ein Paket, das die Reichstagsmehrheit zusammengeschnürt hatte: Bürgertum und Schwerindustrie wurde der Flottenausbau, den Großagrariern ein verbessertes Schutzzollsystem gewährt. Gemeinsam besiegelten sie den Erfolg der Miquelschen Sammlungspolitik, die Flottenpolitik trug diese geradezu, gemeinsam stellten sie außen-, handels- und rüstungspolitisch die Weichen bis 1914.“ (Wehler 1973, S. 169)

Die Flotte, immer schon mit Handel und Kapital verbunden, war das Projekt von Bourgeoisie und städtischem Kleinbürgertum. Spätestens „seit der Revolutionszeit gab es eine verbreitete Neigung, in einer deutschen Kriegsflotte den bewaffneten Arm der Handelsflotte und damit die ‚bürgerliche‘, vom aristokratischen Heer sich abzeichnende Waffengattung zu sehen.“ (Winkler, S. 273) Die Begründung, die Tirpitz für die Notwendigkeit des Aufbaus einer Hochseeflotte gab, entsprach bürgerlichen Zielstellungen: Deutschland könne „mit zunehmender Bevölkerung kein reiner Agrarstaat bleiben“, sondern müsse die „Entwicklung unserer Industrie, unseres Exports und unseres Handels“ vorantreiben. Als handeltreibendes Volk müsse aber Hand in Hand mit der „transatlantischen Entwicklung Deutschlands“ die „Schaffung einer entsprechenden Wehrmacht zur See“ gehen. (Tirpitz, S. 353; er rekapituliert hier aus einer unvollendeten Denkschrift von 1915 die politischen Zielstellungen, aufgrund derer er vom Kaiser 1897 mit dem Aufbau einer Flotte beauftragt wurde) Unterstützt wurde die Flottenpolitik von einer nationalistischen Massenbewegung des städtischen Kleinbürgertums, organisiert im 1898 gegründeten Deutschen Flottenverein, der 1913 mehr als 1 Mio. Mitglieder umfaßte.

Nicht zuletzt bot die Marine dem bürgerlich-kleinbürgerlichen Nachwuchs militärische Aufstiegsmöglichkeiten, die im Heer versperrt waren. „Die ausgedehnteste Resonanz fand die Flottenpolitik ganz fraglos im Bürgertum, dem das Reichsmarineamt mit allen Mitten moderner Rüstungsagitation behilflich war, in der Flotte ’seine‘ Waffengattung‘ zu entdecken und damit zugleich einen ebenbürtigen Ersatz für die verbaute Gleichberechtigung im Heer zu finden. Diese Rechnung ging auf: 1910 kam das Seeoffizierkorps zu achtundvierzig Prozent aus dem Bildungsbürgertum und zu zwanzig Prozent aus dem höheren Wirtschaftsbürgertum, dagegen stammten nur vierzehn Prozent aus Offiziersfamilien. (…) Bis hinüber zum Zentrum und Linksliberalismus wurde der Schlachtflottenbau von einer Welle begeisterter Zustimmung getragen.“ (Wehler 1995, S. 1132, 1134) Während der Reichstag den Heeresetat immer nur für 5 Jahre bewilligte, legte er sich im Marineetat wegen der Auftragsvergabe, Anzahl und Bauzeit der Riesenschiffe auf erheblich längere Zeit fest. Das erste Flottengesetz wurde 1898 verabschiedet, 1900, 1905 und 1906 folgten Erweiterungen.

Vorangetrieben wurde der Übergang zur Weltpolitik durch innenpolitische Erwägungen im Blick auf die stärker werdende Arbeiterbewegung. Miquel benannte als Ziel der neuen Sammlungspolitik die Ablenkung des „revolutionären Elements“ in den Imperialismus, „der die Nation ’nach außen‘ wenden und ihre ‚Gefühle … auf einem gemeinsamen Boden‘ vereinigen solle.“ (Wehler 1995, S. 1138). Aus Sicht der „liberalen Imperialisten“ sollten Schlachtflottenbau und Weltpolitik also im Innern eine gesellschaftliche Hegemonie errichten helfen und durch die Verlagerung des militärischen Schwergewichts vom Land auf das Meer die Machtverhältnisse zugunsten der Bourgeoisie verschieben. Statt den offenen Kampf aufzunehmen, wollte man sich auf Umwegen an die Macht schleichen.

Bis dahin hatte sich das Reich trotz Bismarcks kurzfristigem Kolonialvorstoß von 1884 als europäische Macht begriffen. Jetzt ging es zur „Weltpolitik“ über und erhob gegenüber den alten Kolonialmächten den Anspruch auf einen „Platz an der Sonne“. Für die zeitgenössischen Marxisten war die mit dem Schlachtflottenbau verkündete neue Weltmachtrolle Deutschlands mitentscheidend dafür, den Übergang der entwickelten kapitalistischen Länder zum Imperialismus auf die Jahrhundertwende anzusetzen. So schrieb Lenin Ende 1916 über den Imperialismus: „ich habe in meiner Broschüre zu beweisen versucht, dass er in den Jahren 1898 – 1900 entstanden ist, nicht früher“. (Brief an Ines Armand, LW 35, S. 242) Dieser Imperialismus war nicht von den Junkern getragen; die Großagrarier waren weder an der Flotte noch an der Weltpolitik interessiert. Er trug bürgerlichen Charakter, und da er die Außenpolitik prägte, lag die Schlußfolgerung von einer bürgerlichen Herrschaft in Deutschland nahe.

Außerdem war Wilhelm II. oberster Repräsentant der Weltpolitik und Förderer der Marine, die ihm als deutschem Kaiser im Gegensatz zu den Heerestruppen direkt unterstellt war. Die kaiserliche Flotte wurde das Symbol für den Schulterschluß zwischen Monarchie und Bürgertum, der das deutsche Reich um so mehr als bürgerliche Monarchie erscheinen ließ. Umgekehrt wurde der „Wilhelminismus“ adäquater Ausdruck für eine Bourgeoisie, deren Mehrheit keine Notwendigkeit empfand, selber die Macht zu übernehmen, weil man sich bestens durch den Kaiser vertreten fühlte, dessen großmäulige Kraftmeierei den großen wie den kleinen Bourgeois aus der Seele sprach.

Dabei war das Gros der Schiffe für den überseeischen Einsatz, d.h. für die verkündete Weltpolitik, gar nicht geeignet, weil man sich nicht für eine Kreuzerflotte, sondern für den Bau von Schlachtschiffen entschieden hatte. Weder waren die Unterbringungsmöglichkeiten auf den Großkampfschiffen für lange Aufenthalte berechnet, noch errichtete das Reich in Übersee Versorgungsstützpunkte (Kohlebunker). Nach Stärke, Bewaffnung, Ausrüstung und Ausbildung war die Marine für den Einsatz in der Nordsee vorgesehen. (Steltzer, S. 167 – 169) Militärischer Auftrag und Hauptziel war die Erkämpfung der Seeherrschaft gegen England. Während das Empire eine weltweit operierende Flotte unterhalten mußte, wollte man durch Konzentration auf die Nordsee die Oberhand gewinnen. Da der Aufbau der Flotte ungefähr eine Generation dauern würde, sollten Umfang und Zielsetzung der Rüstung zur See verheimlicht werden, um nicht vorzeitig in Gegensatz zu Großbritannien zu geraten. Politik und Rüstung fielen also auseinander: die außenpolitisch erklärte koloniale Zielsetzung fand keine Entsprechung in den bereitgestellten militärischen Mitteln.

Beim deutsch-französischen Krieg 1870 war Großbritannien wohlwollend neutral geblieben, weil Frankreich nach dem Krimkrieg eine halbhegemoniale Stellung errungen hatte und bei einem Sieg über Preußen zur Vormacht in Kontinentaleuropa geworden wäre. Dieselbe Maxime galt nun gegenüber dem deutschen Nationalstaat. Deshalb u.a. hatte Bismarck Deutschland für „saturiert“ erklärte und in wortloser Übereinstimmung mit dem Inselstaat eine Gleichgewichtspolitik zwischen den Mächten der „Pentarchie“ betrieben. Sonst bestand die Gefahr, dass Großbritannien sich mit den Gegnern Deutschlands verbündete, um das europäische Kräftegleichgewicht wiederherzustellen. Diese Gefahr resultierte nicht aus kolonialen Konflikten. Solange Indien und der Zugang dorthin nicht bedroht wurden, konnte man in Kolonialfragen mit England verhandeln. Was London jedoch auf keinen Fall tolerieren konnte, war eine drohende deutsche Seeherrschaft über die Nordsee, die das Mutterland des Empire schutzlos machen würde.

Um die Spannungen mit Großbritannien abzubauen, versuchte Reichskanzler Bethmann Hollweg Anfang 1912, in Gesprächen mit der britischen Regierung (Haldane-Mission) eine Vereinbarung über die Rüstungsbegrenzung zur See zu treffen. Als sein Vorhaben an die Öffentlichkeit gebracht wurde, brach in den Zeitungen ein nationalistischer Sturm der Empörung los. Gegen die aufgewiegelte bürgerlich-kleinbürgerliche Massenbewegung, die eine bedingungslose Weiterrüstung zur See forderte und den Kaiser auf ihrer Seite hatte, konnte er sich nicht durchsetzen; ein Abkommen kam nicht zustande.

Durch die Verstärkung der eigenen Flottenrüstung blieb die britische Seemacht überlegen. Wie der Krieg zeigte, kam die kaiserliche Marine nicht in die Lage, den Gegner ernsthaft zu gefährden. So bestand der einzige „Erfolg“ des Tirpitz-Plans darin, dass man nach Paris und Moskau jetzt auch London zum Feind hatte – nicht als Folge außenpolitischer Ungeschicklichkeit oder des britischen „Neids“, sondern als Folge innenpolitischer Zwänge. „Die antienglische und zugleich antirussische Außenpolitik der Jahrhundertwende war die außenpolitische Konsequenz der Sammlungspolitik mit ihrer Errichtung des agrarisch-industriellen Kondominiums gegen die Sozialdemokratie. Der konkrete Ausdruck dieses Doppelkampfes der industriell-agrarischen Koalition gegen die Nachbarstaaten und gleichzeitig der Ausdruck ihrer innenpolitischen Sammlung gegen das Proletariat waren das zweite Flottengesetz von 1900 und die Zollvorlage von 1902. Die Agrarier bewilligten der Industrie die gräßliche Flotte, und die Industrie bewilligte den Agrariern als Kompensation dafür die preissteigernden Zölle. Die Agrarier unterstützten den von der Industrie getragenen kapitalistischen Konkurrenzkampf mit England und die Industrie den von den Agrariern geführten Kampf gegen die russische Roggenproduktion.“ (Kehr, S. 166) Auf diese Weise wendete sich der nicht ausgetragene Gegensatz zwischen Junkertum und Bourgeoisie nach außen, indem die „Einkreisung“ Deutschlands vollendet wurde.

2. Rüstung und Steuern

„L’etat, c’est l’etat“ – der Staat, das ist der Haushalt. Die Auseinandersetzungen um den vom Reichstag zu bewilligenden Etat spiegeln die Geschichte des Kaiserreichs bis zu seinem Untergang. Aus dem Reichshaushalt mußte in erster Linie die Rüstung finanziert werden. Da das Reich nicht als Einheitsstaat, sondern als Bund der deutschen Fürsten gegründet war, waren ihm bei der Gründung keine anderen finanzwirksamen Aufgaben und ebensowenig eigene Steuerrechte zugewiesen worden. Seine Ausgaben mußte es durch die sog. „Matrikularbeiträge“ der Einzelstaaten finanzieren, von denen der Löwenanteil in den Militärhaushalt ging. Erst im Lauf der Zeit kamen weitere Ausgaben dazu, hauptsächlich für die Sozialversicherungen, und gelang es der Regierung, eigene Besteuerungsrechte zu erlangen. Das waren im wesentlichen Verbrauchssteuern, auf die man sich am ehesten einigen konnte, weil sie von Dritten, nämlich den Massen, gezahlt werden mußten. Dabei war das Steuersystem gleichzeitig so ausgestaltet, dass es „eine direkte und indirekte Unterstützung der herrschenden politischen und gesellschaftlichen Klasse der ostelbischen kleinadeligen Gutsbesitzer“ bewirkte. (Witt, S. 51 f)

1909 war Bülow gezwungen, den Vorstoß zu einer Steuerreform zu unternehmen, da die Einnahmen nicht ausreichten, um den insbesondere durch den Flottenbau strapazierten Reichshaushalt zu decken. Er schlug die Einführung einer Erbschaftssteuer vor, die ab einem Vermögen von 20.000 RM in steigender Höhe von 1/2 bis 3 % einsetzen sollte. Der Löwenanteil des Steuerertrags wäre bei dieser Regelung aus bürgerlichen Vermögen geflossen; die Bourgeoisie war also bereit, für den Aufbau der Flotte Opfer zu bringen. Allerdings hätte die Besteuerung auch den großen Grundbesitz getroffen, und das kam einer Kriegserklärung gleich. Die Junker waren um keinen Preis bereit, dem Parlament den steuerlichen Zugriff auf ihre Güter zu gestatten, zumal nicht, um die verhaßte Flotte zu finanzieren. Wie der Vorsitzende der Konservativen Heydebrand 1909 im Reichstag ausführte, dürfe das Besteuerungsrecht „nicht in die Hände einer auf dem gleichen Wahlrecht beruhenden parlamentarischen Körperschaft“ gelangen (nach: Witt, S. 259) Gegen die Konservativen, die in dieser Frage das Zentrum auf ihrer Seite hatten, konnte das Gesetz nicht verabschiedet werden. Der Kaiser schlug noch vor, es zu oktroyieren, mußte sich aber von seinem Kanzler belehren lassen, dass das einen Staatsstreich voraussetzte. (Witt S. 294)

Damit war das Kartell von Nationalliberalen und Konservativen zerbrochen. Nach dem Scheitern Bülows einigte sich eine Reichstagsmehrheit von Konservativen und Zentrum darauf, zur Finanzierung des Reichshaushalts neben der Einführung von Steuern auf bestimmte Finanzvorgänge (z.B. Scheck-, Quittungs- und Wechselstempel) neue Verbrauchssteuern einzuführen bzw. die vorhandenen Steuern für Tabak, Tee, Kaffee, Branntwein, Bier, Zündwaren, Beleuchtungsmittel etc. zu erhöhen. Der Löwenanteil der Steuererhöhung traf also erneut die Massen.

Der neue Kanzler Bethmann Hollweg war sogleich mit einer gesellschaftlichen Massenbewegung gegen das Dreiklassenwahlrecht in Preußen konfrontiert. Der linke Flügel der Sozialdemokratie unter Rosa Luxemburg verknüpfte die Auseinandersetzung nach den Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 mit der Debatte um den politischen Massenstreik. Vom rechten Flügel tat dies auch Eduard Bernstein, der für die Demokratisierung des Reichs (auf bürgerlicher Grundlage) eintrat. Zwar wurde die Bewegung noch einmal zurückgeschlagen, weil Gewerkschaften und SPD-Führung kein Interesse an einer Konfrontation mit den Junkern hatten. Aber es wurde deutlich, dass das Dreiklassenwahlrecht auf Dauer nicht zu halten war. Wie schon sein Vorgänger versuchte auch Bethmann Hollweg, in seiner Stellung als preußischer Ministerpräsident eine leichte Auflockerung zu erreichen, konnte sich aber gegen die konservativ-nationalliberale Mehrheit im Landtag nicht einmal mit minimalen Änderungen durchsetzen.

Im Januar 1912 wurde ein neuer Reichstag gewählt. Im Wahlkampf spielten die neuen Massenverbrauchssteuern eine zentrale Rolle. Nach zuvor 43 Abgeordneten stellte die SPD jetzt 110 Abgeordnete, mehr als ein Drittel des Reichstags. Gleichzeitig errang die Fortschrittliche Volkspartei FVP, ein Zusammenschluß dreier linksliberaler Parteien, 42 Mandate, also fast ebenso viele wie die Nationalliberalen mit 45 Abgeordneten und die Deutschkonservativen mit 43 Abgeordneten, bei 91 Zentrumsabgeordneten. Zusammen verfügten SPD und Linksliberale fast über die absolute Mehrheit im Reichstag, zumal wenn sie Unterstützung durch die Parteien der nationalen Minderheiten (Dänen, Polen, Elsässer) erhielten. Gegen einen solchen Reichstag konnte nicht regiert werden.

Der Wahlausgang hatte zur Folge, „dass besonders seit den Reichstagswahlen 1912 konservative Kreise einen Krieg als ein ‚Stahlbad‘ der Nation und eine Stärkung des preußisch-deutschen Staates betrachteten.“ (Fischer, Griff, S. 46) Ernst v. Heydebrand, der Vorsitzende der deutschen Konservativen, sprach offen davon, dass ein Krieg zur „Stärkung der patriarchalischen Ordnung“ notwendig sei (nach: Wehler 1995, S. 1155). Dabei war an einen kurzen Waffengang gedacht, dessen siegreicher Ausgang die „patriarchalische Ordnung“ auf unabsehbare Zeit erneut befestigen würde.

Bis dahin war das Heer nur in engen Grenzen vergrößert worden, weit langsamer als das Bevölkerungswachstum, das in Deutschland stärker als in den Nachbarstaaten war. Aber die Einhaltung der Wehrpflicht hätte den Anteil städtischer Rekruten unter den Mannschaften massiv erhöht und das Hineinströmen bürgerlicher Elemente in das Offizierskorps zur Folge gehabt, weil der Adel zahlenmäßig nicht in der Lage war, genügend Offiziere für ein so großes Heer zu stellen. Um die befürchtete Demokratisierung der Armee zu verhindern, wurde die Wehrpflicht selektiv gehandhabt. Bis zum Krieg stammten mindestens zwei Drittel der Rekruten aus der ländlichen Gesellschaft, d.h. aus Dörfern oder ländlichen Kleinstädten; aus Großstädten kamen nur 6 % der jungen Soldaten. (Wehler 1995, S. 1123) Zeitweise wurde in der Armeeführung auch der Übergang zu einer Berufsarmee erwogen. Das adelige Desinteresse am Ausbau der Landstreitkräfte war nicht zuletzt eine stillschweigende Voraussetzung für den Flottenbau gewesen.

Jetzt aber mußte die Armee in kürzester Zeit massiv aufgestockt werden, um den sog. Schlieffen-Plan zu realisieren, der vorsah, zunächst im Westen binnen weniger Wochen den Sieg über Frankreich zu erringen und anschließend das Gros der deutschen Truppen nach Osten zu verschieben und Rußland zu schlagen. Nach der aus militärischer Sicht vorgetragenen Forderung des Generalstabs sollte das Heer binnen kurzem um fast die Hälfte, um dreihunderttausend Mann, vergrößert werden, u.a. um daraus drei neue Armeekorps zu bilden, die an der Westfront unabdingbar gebraucht würden. Im Generalstab war es vor allem der Nichtadelige Ludendorff, der bei aller Botmäßigkeit gegenüber den preußischen Konservativen das Element des Kleinbürgertums verkörperte und durchgängig für den Aufbau eines Massenheeres eintrat. „Der ausschlaggebende Widerstand kam nicht von der politischen Reichsleitung oder vom Reichstag, sondern von Kriegsminister v. Heeringen, der noch immer die soziale und politische Zuverlässigkeit der Armee für wichtiger als ihr zahlenmäßiges Übergewicht hielt. Obwohl Ludendorff und Moltke mit vereinten Kräften ihrem Expansionsprogramm eine ‚Ausschlag gebende Bedeutung für den siegreichen Ausgang des nächsten Krieges‘ ultimativ zusprachen, verstanden es das Kriegsministerium und das Militärkabinett, sich in dieser Auseinandersetzung klar zu behaupten. Die drei neuen Armeekorps wurden nicht beantragt, die Anforderung des Generalstabs mußte auf 137.000 Mann reduziert werden“. (Wehler 1995, S. 1113)

So wurden den Junkern ihre eigenen Klassenschranken zum Verhängnis. Die deutsche Truppenüberlegenheit reichte nicht aus, um den geplanten Durchbruch im Westen zu erzielen, zumal der Krieg zu einem Zeitpunkt begonnen wurde, wo nicht einmal die 1913 beschlossene Heeresvermehrung vollständig realisiert war, weil das Attentat von Sarajevo im Juli 1914 frühzeitig einen Kriegsgrund bot. Nach wenigen Wochen blieb die Offensive in Nordfrankreich stecken. In den folgenden Jahren erzwang die Eigengesetzlichkeit des Kriegs die millionenfache Vermehrung der Armee, die deren Charakter schließlich so weitgehend veränderte, dass von ihr Ende 1918 eine Revolution ausging.

Nachdem die Heeresvorlage von der Reichstagsmehrheit gegen die Stimmen der SPD verabschiedet worden war, mußte anschließend die Deckungsvorlage zur Finanzierung beschlossen werden. Als das ursprüngliche Finanzierungsgesetz keine Mehrheit fand, schlug die Regierung die Erhebung eines einmaligen „Wehrbeitrags“ vor, der als Vermögenszuwachssteuer durch direkte Besteuerung unter Einbeziehung des Grundbesitzes auch Erbschaften umfassen sollte. Trotz des Widerspruchs der Konservativen brachte der Reichskanzler den Gesetzentwurf ein, der anschließend von einer sog. Mitte-Links-Mehrheit (SPD, FVP, Nationalliberale, Mehrheit Zentrum) gegen die Stimmen der Konservativen verabschiedet wurde. Mit dem Wehrbeitragsbeschluß wurde „erstmals in der Geschichte des Deutschen Reichs ein wichtiges Finanzgesetz gegen den geschlossenen Widerstand der Konservativen durchgesetzt (…) Selbst die Zweckbestimmung der neuen Steuern für die Erweiterung der deutschen Rüstung hatte, entgegen Bethmann-Hollwegs Erwartungen, die Konservativen nicht zur Zustimmung veranlaßt, da sie ihre materiellen Klasseninteressen mit den Interessen der Nation gleichsetzten und folglich in der Gefährdung ihrer persönlichen Stellung eine Verletzung des ‚Staatswohls‘ sahen.“ (Witt, S. 372) Damit realisierten sich die schlimmsten Alpträume der Großgrundbesitzer: das nach allgemeinem Wahlrecht zustandegekommene Parlament nahm das direkte Besteuerungsrecht in die Hand, und das auf Vorschlag des Reichskanzlers und mit Einschluß der Sozialdemokratie. Falls der Entschluß zum Krieg in der Junkerschaft vorher noch in Frage stand, dann mußte er jetzt endgültig fallen. Das Attentat von Sarajevo im Juli 1914 lieferte den äußeren Anlaß, ihn umzusetzen.

Anders als die Entente-Mächte, die wenigstens einen Teil der Kriegskosten durch Steuern deckten, finanzierte das Reich den Krieg über Anleihen, die sog. „Kriegskredite“. Eine Erhöhung der Massenverbrauchssteuern hätte den inneren Klassenfrieden mit Kleinbürgertum und Arbeiterschaft bedroht, und die Besteuerung von Vermögen oder Einkommen wie beim Wehrbeitrag von 1913 war zu einem Zeitpunkt, wo die Waffen sprachen, gegen Militärs und Konservative illusorisch. Der Ausweg war, die Kriegskosten durch Anleihen zu decken, in der Hoffnung, dass der geschlagene Gegner am Ende die Rückzahlung finanzieren würde.

3. Ein Krieg zur Stärkung der patriarchalischen Ordnung

Am Vorabend der Julikrise 1914 befand sich ganz Deutschland in einem Zustand der Erstarrung. Der Kriegsbeginn rief ein weitverbreitetes Gefühl der Erlösung hervor. Alle handelnden Kräfte waren für den Krieg, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen:

Für die Junker lag der Zweck des Kriegs in der Rettung der patriarchalischen Ordnung, obwohl viele ihrer militärischen Köpfe sich des Risikos, das sie eingingen, bewußt waren. Aber sie besaßen kein anderes Mittel mehr, um ihre untergehende Herrschaft zu sichern.

Die Bourgeoisie befand sich innen- wie außenpolitisch in der Sackgasse, im Innern durch die festgeschriebenen Machtverhältnisse, im Äußeren, weil die lauthals verkündete „Weltpolitik“ nicht die versprochenen Erfolge gebracht hatte. Selbst unfähig, den Weg zur Macht zu gehen, fühlte sie sich gleichzeitig durch die anwachsende Arbeiterbewegung bedroht. Ohne politisches Konzept und ohne anerkannte Führung, erhoffte sie sich vom Krieg eine wie immer geartete Besserung. Dabei hatte sie schon verloren, noch bevor der erste Schuß fiel. Deutschland war keine Großbritannien ebenbürtige Seemacht geworden, und nicht das Junkertum folgte der Bourgeoisie in einem Seekrieg der bürgerlichen Flotte gegen Großbritannien, sondern das Bürgertum folgte den Rittergutsbesitzern in einem Landkrieg des großpreußischen Heeres gegen die Nachbarmächte.

Das ländliche und städtische Kleinbürgertum als hauptsächlicher Massenträger des deutschen Nationalismus und Imperialismus befürwortete den Krieg ebenfalls in der vagen Aussicht auf eine Verbesserung seiner Lage, sei es durch die Rückkehr der „guten alten Zeit“, koloniale Gewinne oder die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten.

Die Reichsleitung mit Bethmann-Hollweg an der Spitze war vor 1914 damit konfrontiert, dass die außenpolitische Lage Deutschlands immer prekärer wurde. Bismarck hatte schon bei dem befürchteten Zusammengehen von Frankreich und Rußland einen „cauchemar des coalitions“ gehabt, den Alptraum einer gegnerischen Allianz. Jetzt gehörte zusätzlich Großbritannien zu den Gegnern, und mittlerweile drohte auch die militärische Lage sich zu verschlechtern, nachdem Frankreich den Übergang zu 3 Jahren Militärdienstzeit und Rußland eine umfangreiche Heeresvermehrung beschlossen hatte, die 1916/17 wirksam werden würde. Im Unterschied zu den Konservativen war Bethmann Hollweg nicht für einen Krieg um jeden Preis, sondern wollte die Julikrise 1914 dazu nutzen, die Entente zwischen Frankreich, Rußland und England auseinander zu manövrieren, um die Isolierung Deutschlands aufzubrechen. (s. dazu die Aufsätze über die Politik der Reichsleitung 1914 in: Schieder 1969) Hinter dem Rücken der Regierung wurde jedoch die preußische Militärführung aktiv und drängte die Adelskräfte in Wien und Budapest, die selber auf einen Krieg zur Stabilisierung ihrer Herrschaft im Vielvölkerreich hofften, sich auf keinen Kompromiß mit Serbien und dem dahinter stehenden Rußland einzulassen, bis Österreich-Ungarn am 28.Juli 1914 Serbien den Krieg erklärte.

So reduzierte sich die Aufgabe des Reichskanzlers neben dem untauglichen Versuch, England aus dem Krieg herauszuhalten, darauf, die Kriegserklärung so zu „fingern“, dass die sozialdemokratische Arbeiterschaft von der Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung überzeugt war. „Dabei bestimmte ihn (Bethmann-Hollweg; H. K.) neben dem Blick auf England vor allem die Absicht, den Führern der deutschen Sozialdemokratie das Ja zu den Kriegskrediten zu erleichtern. Er wußte, dass nur ein Verteidigungskrieg zur Abwehr des zaristischen Rußlands von den Sozialdemokraten gebilligt werden würde, den Krieg gegen Frankreich würden sie nur widerwillig und nur als Folge der Bündnishilfe Frankreichs für Rußland hinnehmen.“ (Fischer, Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im Ersten Weltkrieg; in: Schieder 1969, S. 94)

Eines der maßgeblichen Treffen auf dem Weg in den Krieg fand am 1.August 1914 im Berliner Schloß zwischen Kaiser, Reichskanzler, dem Chef des Reichsmarineamts von Tirpitz, dem preußischen Kriegsminister von Falkenhayn sowie dem Generalstabschef Helmut von Moltke statt. Definitiv kriegsentschlossen waren nur die militärischen Vertreter der Junker, Moltke und Falkenhayn. Zögerlich waren neben Tirpitz auch Wilhelm II. und Bethmann Hollweg, weil klar war, dass die Marine in diesem Krieg keine entscheidende Rolle spielen würde, die Gegnerschaft Englands also höchst überflüssig war. Als Wilhelm II. in der Hoffnung auf eine positive Depesche aus England die bereits erteilte Mobilmachungsorder nebst Angriffsbefehl gegen Frankreich durch das neutrale Belgien und Luxemburg zurücknehmen wollte, drohte Moltke mit dem Widerstand des Offizierskorps: dann „hätte der Kaiser wohl einen Haufen Menschen, aber keine Armee“. (Tirpitz, S. 17) An jedem entscheidenden Punkt zeigte sich, dass „der Krieg von 1914 – 1918 kein Emanzipationskampf des Industriekapitalismus um die Macht (war); er war der Kampf der alten Ordnung ums Überleben.“ (Mayer, S. 9)

Der politisch engagierte Teil der Arbeiterklasse vom Zentrum bis zur Sozialdemokratie, von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen über die christlichen bis hin zu den Freien Gewerkschaften, war entschieden für die Unterstützung des Kriegs. Für den bedeutendsten, den sozialdemokratischen Flügel war maßgeblich, dass der Krieg als nationaler Verteidigungskrieg gegen die „asiatische Despotie“ des Zarismus und seiner Verbündeten dargestellt und von der großen Mehrheit auch aufgefaßt wurde. Diese breite nationale Hochstimmung wäre bei einem Krieg im erkennbaren Interesse des „großen Kapitals“ niemals aufgekommen. Die Bewilligung der Kriegskredite am 4.August 1914 war alles andere als ein „Verrat“ an der Basis, sondern die propreußisch eingestellte sozialdemokratische Mitglieder- und Wählerschaft forderte den Krieg. Was Bismarck in seinen Gesprächen mit Lassalle nur eruiert, aber seinerzeit wegen der Bedeutungslosigkeit der Sozialdemokratie verworfen hatte, wurde jetzt Realität: mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten ging die Arbeiterbewegung ein Bündnis mit dem Junkertum zur Verteidigung der patriarchalischen Ordnung ein, in der Hoffnung auf einen Ausbau des „preußischen Sozialismus“.

Nur eine kleine Minderheit von „Rechten“ und „Linken“ lehnte die Kriegskredite ab. Auf dem rechten Flügel war es (zu einem späteren Zeitpunkt) in erster Linie Bernstein, der diesen Krieg als Junkerkrieg einschätzte, wogegen er für ein (bürgerlich geführtes) Bündnis mit den Bürgerlichen gegen die Adelsmacht eintrat, mit dem Ziel der Demokratisierung Deutschlands. Auf dem linken Flügel waren es Liebknecht und Luxemburg, die aus prinzipiellen Erwägungen gegen den Krieg waren, wenngleich sie sein konkretes Wesen falsch begriffen.

4. Die Errichtung der Militärdiktatur

Bei Kriegsbeginn hatte das Reich keine erklärten Kriegsziele. Ihr Fehlen diente Heerscharen von Historikern als Beweis für das deutsche „Hineinstolpern“ in den Krieg, beweist aber nur seinen innenpolitischen Ursprung. Erst im Nachhinein setzte eine Debatte über die Kriegsziele ein, die deutlich unterscheidbare Richtungen einschlug.

Die von den Junkern in Gestalt der Obersten Heeresleitung (OHL) erhobenen Territorialforderungen waren wesentlich militärisch bedingt: es ging um die Gewinnung „natürlicher“ Grenzen als günstige Verteidigungslinien für die künftig erwarteten Kriege. Im Osten zielten erste Überlegungen darüber hinaus auf das Baltikum mit seinen deutschstämmigen Großgrundbesitzern zur Stärkung der eigenen Klasse; allerdings sollte das Zarenreich nicht zu sehr geschwächt werden, um es als Bollwerk der Reaktion in Europa zu erhalten.

Die bürgerlichen Politiker glichen ihre Kriecherei vor dem preußischen Adel durch die Aufstellung von um so maßloseren Kriegszielen aus: nach Westen wie nach Osten machte man vor keiner erreichbaren Rohstoffquelle Halt; für Frankreich (Aneignung des Beckens von Longwy) hätte die Realisierung dieser Ziele das Ende als Industriestaat bedeutet, und für Belgien das Ende als eigener Staat. Dabei ging es auch darum, die Nordseeküste und französische Atlantikhäfen in die Hand zu bekommen, um endlich den „bürgerlichen“ Seekrieg gegen Großbritannien führen zu können.

Von Seiten des Kleinbürgertums wurden die ersten großräumigen Siedlungspläne für die Ansiedlung deutscher Bauern im Osten unter Vertreibung der einheimischen Bevölkerung aufgestellt.

Die Einzelheiten gehen uns hier nichts an; sie finden sich in den Veröffentlichungen von Fritz Fischer, und ihr Verständnis erschließt sich, sobald man die Kriegsziele den unterschiedlichen Klassen und ihren Interessen zuordnet.

Solange der Kriegsausgang offen war, konnten die unterschiedlichen Kriegszielforderungen nebeneinander her existieren. 1916 machte sich jedoch bemerkbar, dass die Reserven der Mittelmächte zu Ende gingen. In der Arbeiterklasse gab es angesichts der schlechter werdenden Versorgungslage erste Anzeichen von Unzufriedenheit, und in der Reichstagsfraktion der SPD nahmen bei jeder neuen Bewilligung von Kriegskrediten die Neinstimmen zu. Da schien die russische Februarrevolution 1917 die Möglichkeit zu eröffnen, über einen Separatfrieden mit Rußland zu einem Gesamtfrieden zu gelangen, wenn man auf die bisherigen weitgespannten Kriegsziele verzichtete. Bis dahin hatte die SPD-Führung die Kriegszieldebatte durch vielsagendes Schweigen akzeptiert. Als sie nach der russischen Februarrevolution durch das Anwachsen der inneren Opposition unter Druck geriet und sich im April 1917 die „Unabhängige“ SPD (USPD) gründete, die im Unterschied zur „Mehrheits“-SPD (MSPD) die Fortsetzung des Kriegs verweigerte, forderte sie zum erstenmal einen „Frieden ohne Annexionen“ und verabschiedete im Juli 1917 zusammen mit Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei eine Friedensresolution.

Sofort traten die vorhandenen Gegensätze zutage. „In der öffentlichen Diskussion in Deutschland um die Kriegsziele, die seit dem Frühjahr 1917 unter den Parolen des Verständigungsfriedens oder Siegfriedens, des Scheidemann-Friedens oder des Hindenburg-Friedens heftiger denn je entbrannte, trat immer deutlicher auch die innenpolitische Bedingtheit der deutschen Kriegszielpolitik hervor. Die OHL und die gesamte politische Rechte in Deutschland begründeten die Notwendigkeit ‚positiver‘ Kriegsziele wiederholt mit dem Argument, ein Abschluß des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen würde das monarchische System bedrohen.“ (Fischer, S. 271) Dagegen sahen Kaiser und Reichsleitung, dass die Hauptgefahr für die Monarchie und überhaupt für die Fortsetzung des Kriegs von der zunehmenden Brüchigkeit der „inneren“ Front herrührte. Im innenpolitischen Teil seiner Osterbotschaft 1917 verkündete Bethmann Hollweg eine „Neuorientierung“, die auf die Einbeziehung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zielte, die Reform des Dreiklassenwahlrechts in Preußen versprach und als Programm von „Kaisertum und Demokratie“ bekannt wurde. „Sosehr in diesen vagen Andeutungen einer Reform an dem Charakter des monarchischen Obrigkeitsstaates festgehalten wurde, so genügten sie schon, um die konservativen Elemente Preußen-Deutschlands in Alarmstimmung zu versetzen.“ (Fischer, S. 275)

Im Sommer 1917 wurde der Konflikt ausgetragen. In seiner Funktion als preußischer Ministerpräsident setzte Bethmann Hollweg die Wahlrechtsreform auf die Tagesordnung des preußischen Ministerrats und stellte in den Beratungen als „entschiedenster Befürworter … die Schlüsselstellung der MSPD und der Gewerkschaften zur Gewinnung des Krieges mit übergroßer Schärfe heraus.“ (Fischer, S. 339) Am 11.Juli 1917 unterzeichnete Wilhelm II. als preußischer König eine „Allerhöchste Ordre betreffend das gleiche Wahlrecht“, in der die Reform des Dreiklassenwahlrechts nach dem Krieg angekündigt wurde.

Den Kaiser konnten die Junker nicht stürzen, ohne sich selber zu gefährden; er wurde zu einer Galionsfigur degradiert und kaltgestellt. Für den Kanzler, der bereits seit dem Wehrbeitragsbeschluß des Reichstags auf der Abschußliste stand, bedeutete die Infragestellung des Dreiklassenwahlrechts das Ende. Sein Sturz fiel um so leichter, als er mittlerweile auch im Reichstag keine Mehrheiten mehr hinter sich hatte, weil das Anwachsen der USPD die Mehrheits-SPD wider Willen nötigte, auf Distanz zu ihm zu gehen. „Selbst wenn es Bethmann Hollweg gelungen wäre, im Reichstag eine Mehrheit mit Einschluß des Zentrums zu gewinnen, es wäre für den Kanzler des kaiserlichen Deutschlands ausgeschlossen gewesen, sich gegen die Konservativen und die mit ihnen verbündeten Kräfte der Armee, Bürokratie und Wirtschaft auch nur einen Tag zu behaupten.“ (Fischer S. 341) Am 13.Juli 1917, gleich nach Veröffentlichung der Wahlrechtsordre, zwangen Hindenburg und Ludendorff den Reichskanzler zum Rücktritt, indem sie dem Kaiser erklärten, dass das notwendige Vertrauen für eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr gegeben sei. An seine Stelle ließ die OHL Michaelis treten, der sich durch die Ankündigung qualifizierte, „dass er sein Amt in steter Übereinstimmung mit der OHL führen wolle.“ (nach: Fischer, S. 341) Seither übte die Oberste Heeresleitung eine Militärdiktatur über Deutschland aus, der Regierung und Parlament nur als Feigenblatt dienten.

Nach dem Zusammenbruch der russischen Front am Jahreswechsel 1917/18 konnte Deutschland im Osten den Frieden diktieren. Dabei stießen auf deutscher Seite in Brest-Litowsk zwei Konzeptionen aufeinander, die trotz gemeinsamer Eroberungspläne unterschiedliche Stoßrichtungen aufwiesen. Die Mehrheit der bürgerlichen Politiker sowie der Staatssekretär des Äußeren, von Kühlmann, wollten das Reich in Richtung Österreich-Ungarn orientieren, um unter Verständigung mit der Donaumonarchie einen von Deutschland beherrschten mitteleuropäischen Großwirtschaftsraum zu schaffen. Dagegen trat die OHL für eine schwerpunktmäßige Orientierung nach Osten ein, die in erster Linie großpreußisch-junkerlichen Interessen diente und Konflikte mit Österreich-Ungarn in Kauf nahm. Obwohl offiziell der Staatssekretär des Äußeren für die Reichsregierung die Friedensverhandlungen führte, zwangen ihm die Militärs den Abschluß ihres Ostfriedens auf. „Die große Ostkonzeption Deutschlands, weit über Brest-Litowsk hinausgehend, verhinderte den Abschluß ‚Mitteleuropas‘. Dieses wurde – im letzten Stadium – von Deutschland zugunsten der Beherrschung des Ostens aufgegeben“. (Fischer, S. 449; s. a. S. 464 ff)

Um das Friedensdiktat von Brest-Litowsk zu sichern, mußten ca. 1 Million Soldaten im Osten bleiben. Sie fehlten bei der angestrebten Entscheidung im Westen; die Offensiven im Frühjahr und Sommer 1918 schlugen fehl. Während die deutschen Streitkräfte von Woche zu Woche schwächer wurden, verstärkten immer mehr amerikanische Truppen die alliierten Linien. Am 29.September eröffneten Hindenburg und Ludendorff dem Kaiser, dass das Heer dem alliierten Druck nicht mehr lange standhalten könne, und forderten ein sofortiges Waffenstillstands- und Friedensangebot an die amerikanische Regierung.

5. Der Übergang in eine junkerlich-sozialdemokratische Republik

Die sich abzeichnende militärische Niederlage mußte die Autorität der alten Gewalten aufs schwerste erschüttern. Trotzdem unternahm der Reichstag – die Sozialdemokratie eingeschlossen – keinen Versuch, die politische Entscheidungsgewalt an sich zu ziehen. „Die Parlamentarisierung Deutschlands ist nicht vom Reichstag erkämpft, sondern von Ludendorff angeordnet worden.“ (Rosenberg 1, S. 212) Den Militärs war daran gelegen, die Verantwortung für den Friedensschluß nach verlorenem Krieg an den Reichstag abzugeben, einem unkontrollierten Umsturz im Innern zuvorzukommen und so viel wie möglich der alten Verhältnisse zu retten. Davon abgesehen war der Grund für ihren Sinneswandel die Forderung nach Demokratisierung, die der amerikanische Präsident Wilson in seinen „14 Punkten“ für den Friedensschluß aufgestellt hatte. Die US-Regierung zielte nicht auf die dauerhafte Niederhaltung Deutschlands, sondern auf die Festsetzung in Europa. Dagegen waren von Großbritannien und vor allem Frankreich wesentlich härtere Friedensbedingungen zu erwarten. Deshalb war Deutschland daran interessiert, die USA zum Schiedsrichter des Friedensschlusses zu machen. Am 28.Oktober trat das Gesetz zur Änderung der Bismarckschen Reichsverfassung in Kraft, das dem Reichstag das Recht zur Wahl und Abwahl einer dem Parlament verantwortlichen Regierung übertrug und Deutschland in eine konstitutionelle, parlamentarisch fundierte Monarchie umwandelte.

Auch das preußische Wahlrecht fiel jetzt, als die OHL nach dem Scheitern der letzten Offensivversuche mitteilen ließ, „dass das gleiche Wahlrecht in Preußen aus militärischen und nationalen Gründen notwendig sei“. (Rosenberg I, S. 197) Nachdem die Fraktionen der Konservativen, Nationalliberalen und des Zentrums bis dahin alle Reformversuche abgeschmettert hatten, faßte der Landtag jetzt einen einstimmigen Beschluß zur Einführung des Reichstagswahlrechts. Ende Oktober 1918, d.h. vor der Novemberrevolution, waren unter der Regie der Militärs alle entscheidenden Änderungen erfolgt. „Der Sieg der parlamentarischen und demokratischen Institutionen im kaiserlichen Deutschland war jedoch nicht die Folge eines revolutionären Ereignisses von unten, aus dem die westlichen Demokratien ihre innere Stärke bezogen, sondern die Frucht einer bewußt geplanten ‚Revolution von oben‘, um der ‚Revolution von unten‘ Wind aus den Segeln zu nehmen und gleichzeitig gegenüber den Siegermächten in eine möglichst günstige Verhandlungsposition zu kommen.“ (Fischer, S. 558) Die kommende revolutionäre Bewegung änderte an den Besitzverhältnissen nichts und an den Machtverhältnissen wenig. Selbst die Abschaffung der (mittlerweile konstitutionellen) Monarchie wurde noch von der OHL in die Wege geleitet, indem General Groener dem Kaiser am 9.November mitteilte, dass die Armee nicht mehr hinter ihm stehen würde – Soldaten und Offiziere -, und ihn dadurch zur Abdankung nötigte. (Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik; in: Bracher/Funke/Jacobsen 1987, Anm.13, S. 21 und Anm. 35, S. 27) Neben der republikanischen Ornamentik fügte die Revolution den bereits feststehenden politischen Änderungen noch das Frauenwahlrecht hinzu.

Allerdings war noch kein Frieden geschlossen, und das wurde zum Auslöser der revolutionären Bewegung, die in den kommenden Wochen Deutschland überrollte, ausgehend von Kiel, wo die Matrosen den Befehl zum Auslaufen der Flotte am 30.Oktober 1918 verweigerten. Innerhalb weniger Tage „hatten überall in Deutschland, in der Stadt wie auf dem Lande, die Arbeiter- und Soldatenräte die reale Gewalt, gestützt auf die revolutionären Truppenteile und auf die Arbeiterschaft, die sich an vielen Orten gleichfalls bewaffnete.“ (Rosenberg II, S. 17) Am 9.November übertrug der letzte kaiserliche Kanzler, Prinz Max von Baden, sein Amt an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Kurz darauf wurde dieser (gemeinsam mit dem USPD-Vertreter Haase) auch Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten, der je drei Vertreter von MSPD und USPD umfaßte und die Rätebewegung repräsentierte. Das zeitweise Nebeneinander zweier Gewalten hielt nicht lange an, denn der vom 16.-20.Dezember 1918 tagende allgemeine Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte beschloß für den 19.Januar 1919 die Wahl zur Nationalversammlung und verfügte so das Ende der Rätemacht.

Das Entscheidende an der Politik der SPD war nicht, dass sie eine sozialistische Revolution verhinderte (was die vorherrschende marxistische Geschichtsschreibung ihr bis heute vorwirft), sondern dass sie die stattfindende bürgerliche Revolution in ihr Gegenteil verkehrte, indem sie ein Bündnis mit eben jenen Kräften schloß, gegen welche die Revolution sich richten mußte. Durch eine Absprache Eberts am 9.November mit General Groener, dem Nachfolger Ludendorffs in der Armeeführung, garantierte die SPD-Führung die Befehlsgewalt des Offizierskorps im Gegenzug gegen die Anerkennung als neuer Träger der Regierungsgewalt (Ebert-Groener-Pakt). In der Folge blieb das Heer vollständig in der Hand der preußischen Großgrundbesitzer. Nachdem die von kleinbürgerlichen Kräften geprägten Freikorps unter dem Befehl des sozialdemokratischen Reichswehrministers Noske die revolutionären Aufstände der Jahre 1919 – 20 in Deutschland und im Baltikum niedergeschlagen hatten, erzwangen die junkerlichen Militärs auch deren Auflösung. Für sie war kein Platz in der neuen Reichswehr, die aufgrund der vom Versailler Friedensvertrag auferlegten Beschränkungen in ihrem 100.000 Mann-Heer einen höheren Anteil adeliger Offiziere aufwies als zur Kaiserzeit.

Nach dem Abkommen mit der Heeresführung war es schlechterdings unmöglich, den Adel noch zu enteignen. Mit der Begründung, die Lebensmittelversorgung müsse gesichert werden, ließ die SPD den Großgrundbesitz ungeschoren; die Landarbeiter, die sich vorübergehend den Gewerkschaften zuwandten, gingen später zur NSDAP. Wie die Armeestruktur, so blieb auch der Beamten- und Justizapparat unangetastet. Gleichzeitig schlossen die Gewerkschaften mit der Großindustrie das „Stinnes-Legien-Abkommen“, das die dauerhafte Zusammenarbeit in einer „Zentralen Arbeitsgemeinschaft“ (ZAG) vorsah. Es sicherte den Fortbestand des Privateigentums in der Großindustrie im Gegenzug gegen die Einführung des Acht-Stunden-Tag, die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifparteien und den Abschluß kollektiver Arbeitsverträge. Auf diese Weise legte sich der rechte Flügel der Arbeiterbewegung unter der Führung von Ebert und Scheidemann wie ein schützender Wall vor die alten Herrschaftsklassen. Das „Stinnes-Legien-Abkommen“ war ein Vorläufer des Klassenkompromisses zwischen Kapital und Arbeit, der 30 Jahre später als „Sozialpartnerschaft“ die jahrzehntelange Stabilität der Bundesrepublik sichern sollte. Der Unterschied lag darin, dass 1918/19 ein maßgeblicher Flügel des großen Kapitals – der Ruhrkohlebergbau und die damit verbundene Eisen- und Stahlindustrie – nicht grundsätzlich zum Klassenkompromiß bereit war, sondern die Vereinbarung als taktischen Schachzug zur Abwendung der drohenden Enteignung handhabte und sie nach wenigen Jahren aufkündigte.

Um das konterrevolutionäre Bündnis von SPD und Junkertum, Gewerkschaften und Schwerindustrie aufzubrechen, mußte man eine Politik der Weiterführung der bürgerlichen Revolution betreiben. Auf der Tagesordnung stand keine proletarisch-sozialistische Revolution, sondern eine demokratische Volksrevolution. Nur dadurch war die SPD in den Massen zu isolieren. „Ein ernster Wille, sozialistische Maßregeln durchzuführen, zeigte sich im Reich bei den revolutionären Massen eigentlich nirgends. Solche Absichten wären schon durch die Haltung der Soldaten vereitelt worden, deren Mehrheit nicht sozialistisch war, entsprechend der Mehrheit des deutschen Volkes.“ (Rosenberg I, S. 239) Entscheidend war der soziale Inhalt dieser Revolution. Man hatte den Großgrundbesitz nicht nur zu enteignen, sondern im gleichen Atemzug Teile des Adelslandes an kleine Bauern und Landarbeiter zu verteilen, denn damit würde man eine unzerstörbare Bastion gegen die Rückkehr der Junker errichten. Ebenso hatte man nicht nur Banken und die Großindustrie, in erster Linie die Schwerindustrie, zu verstaatlichen, sondern mußte zugleich den Forderungen des städtischen Kleinbürgertums entgegenkommen, um es für den Kampf gegen die alten Mächte zu gewinnen. Die vorübergehende Stärkung des kleinen Eigentums mußte man in Kauf nehmen, denn durch die Eroberung der Macht an der Spitze einer Volksrevolution war allemal mehr zu gewinnen als man verlor. Der Übergang zum Sozialismus stand erst in der folgenden Etappe an, gestützt auf die Staatsmacht und den Besitz der großen Industrie. (dazu M. Vogt = H. Karuscheit: Die Arbeiterbewegung ohne Weg zur Macht, in: AzD 53/1991)

Dagegen kämpften die Linken für die unmittelbare Errichtung des Sozialismus, und so wurde in dem von Rosa Luxemburg verfaßten Programm(entwurf) der 1918/19 gegründeten KPD u.a. die Enteignung der bäuerlichen Mittelbetriebe verlangt. Statt die kleinen von den großen Produktionsmitteleigentümern zu trennen, schweißte man sie mit derartigen Forderungen zusammen. Indem man die anstehenden demokratischen Aufgaben durch einen Sprung zum Sozialismus lösen wollte, ließ man sie unerledigt, und indem man versuchte, eine proletarische Revolution durchzuführen, richtete man sich gegen die Massen des Volkes und trieb das Kleinbürgertum millionenfach auf die Seite der Konterrevolution.

Allerdings entsprach die Sozialismuspolitik den spontanen Erwartungen des revolutionären Teils der Arbeiterklasse. Der Krieg und die dadurch bedingte Veränderung des Produktionskörpers hatte eine neue Arbeiterbewegung entstehen lassen, die weder handwerklich-ständisch noch vom preußischen Sozialismus der alten Sozialdemokratie geprägt war. Ungelernte Industriearbeiter, Frauen und Arbeiterjugendliche waren die Basis dieser neuen Bewegung, die, von Hunger und Not getrieben, gleichermaßen gegen Krieg, Junkertum und Kapital Front machte. Aus ihr wuchs die KPD hervor, ohne das Schicksal der Sozialdemokratie begriffen zu haben. Die Linken hatten die Kernfrage nach dem Verhältnis von bürgerlicher zu sozialistischer Revolution in der Vergangenheit nicht geklärt, ja nicht einmal aufgeworfen; statt mit den Inhalten hatten sie sich mit den Kampfformen beschäftigt (Massenstreikdebatte). Deswegen konnten sie die Bewegung, als sie endlich losbrach, nicht führen, sondern wurden von ihr geführt, ein Spielball der Massen. Bis zum Schluß waren sie nicht in der Lage, eine Revolutionsstrategie zu entwickeln, die es dem revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung erlaubte, die Hegemonie über die Massen des Volkes zu erringen. Er blieb isoliert und zum Scheitern verdammt – 1918/19 ebenso wie 1932/33

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