II. Die Grenzen der Balancepolitik

Wenn es ein gemeinsames Band zwischen der Innen- und Außenpolitik des ersten Reichskanzlers gab, dann war es die Status-Quo-Politik, die Erhaltung des 1870/71 Erreichten durch eine Politik der Balance nach innen und außen. Im Innern setzte Bismarck alles daran, die von ihm geführte Regierung gegenüber den Reichstagsparteien selbständig zu halten, und nach außen betrieb er im „Fünfeck“ der europäischen Großmächte England, Frankreich, Rußland, Österreich-Ungarn und Preußen-Deutschland ebenfalls eine Gleichgewichtspolitik; er versuchte also die Grundlinien der Politik des Wiener Kongresses fortzusetzen, wenngleich mit verschobenen Gewichten.

1. Wendung gegen die Liberalen

Anfang der 70er Jahre ließ Bismarck die Regierung gemeinsam mit den Liberalen gegen die katholische Kirche und die katholische Partei, das „Zentrum“ vorgehen. Das offiziell verkündete Ziel des „Kulturkampfs“ war die Sicherung der Reichseinheit gegen diejenigen, die Vorbehalte gegen das evangelisch geprägte Hohenzollernreich und den Ausschluß des katholischen Österreichs hatten. Bischof Ketteler vom „linken“, sozialen Flügel des Zentrums dagegen sah die „wahre Bedeutung des Kulturkampfs“ darin, „die preußische Staatsverfassung wieder von allen freiheitlichen Elementen … vollständig zu säubern und das alte monarchistisch-absolutistisch-militärische Preußen … in seiner ganzen Integrität wiederherzustellen“. (nach: Wehler 1995, S. 900) Das war in der Tat das wahrscheinliche Leitmotiv Bismarcks: „Eine von ihm unabhängige … konservative Partei, die sich auf parlamentarisch-demokratischer Grundlage organisierte, sollte auf diese Weise ins politische Abseits manövriert werden, um ihr auch im Lager der politischen Rechten sozusagen die Bündnisfähigkeit zu nehmen.“ (Gall, S. 473) Die Folge des Kulturkampfs war ein tiefer Graben zwischen den großen Parteien der Nationalliberalen und des Zentrums, die bei allen sonstigen Unterschieden beide für ein verantwortliches Parlament eintraten.

Gerade weil das zunehmende ökonomische Gewicht der Bourgeoisie ihren politischen Einfluß stärkte und die deutsche Einigung trotz aller verfassungsmäßigen Vorkehrungen einen gewissen Selbstlauf zum Parlamentarismus mit sich brachte, mußte Bismarck gegensteuern, um zu verhindern, was die Bourgeoisie ebenso wie Engels als notwendig erachteten: die Anpassung der politischen an die ökonomischen Zustände. Zu diesem Zweck spielte er die der Parlamentsherrschaft verpflichteten Reichstagsparteien gegeneinander aus. Sein entscheidender Widerpart waren dabei die (National-) Liberalen, denn „seit 1862 hatte er ohnehin im Liberalismus den eigentlich gefährlichen Kontrahenten gesehen, der das Potential für den Umbau des alten Preußens besaß, zu dessen Verteidigung Bismarck angetreten war.“ (Wehler 1995, S. 872) Nachdem er bis dahin eng mit ihnen zusammengearbeitet hatte, ging er nach den Reichstagswahlen von 1877 zum Angriff auf sie über.

Das entscheidende Mittel dazu war das Sozialistengesetz (1878 bis 1890), dessen ersten Entwurf er 1877 nach einem Attentat auf den Kaiser in den Reichstag einbrachte. Der offizielle Adressat, die Sozialdemokratie, war in Wahrheit nur das Spielmaterial. „An eine sozialdemokratische Massenbewegung, geschweige denn an ihre politische Mehrheitsfähigkeit hat Bismarck nicht geglaubt. (…) Der eigentliche, der tendenziell mehrheits- und zustimmungsfähige Gegner blieb für ihn der Liberalismus. Im Vergleich sei die SAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei; HK), argumentierte er 1884 im engen Kreis des Staatsministeriums ganz offenherzig, gerade wegen ihrer utopischen Ziele weniger gefährlich. Deshalb ‚halte er das Anwachsen der Sozialdemokratie nicht für besonders bedenklich!'“ (Wehler 1995, S. 907) Indem er auf den sozialdemokratischen Sack schlug, sollte der nationalliberale Esel getroffen werden, denn das Sozialistengesetz stellte die Nationalliberalen vor eine Zerreißprobe. Sie hatten nicht nur Bedenken wegen der vorgesehenen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten. Ihnen war klar, dass ihre Zustimmung zu dem Gesetz alle Hoffnungen auf eine Gefolgschaft der Arbeiterbewegung wie z.B. in Großbritannien, wo die Labour-Bewegung lange Teil der Liberalen blieb, zunichte machen würde. In vertrautem Kreis nannte der Parteiführer Miquel das Sozialistengesetz „das infamste Gesetz, ein Gesetz, das uns um dreißig Jahre zurückgeworfen hat.“ (nach: Gall, S. 573)

Zunächst lehnten die Nationalliberalen den Gesetzentwurf mehrheitlich ab. Daraufhin nutzte Bismarck ein weiteres Attentat, um den kaum ein Jahr zuvor gewählten Reichstag aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Noch im Wahlkampf fielen die Nationalliberalen um, ohne ihren Rückgang von 128 auf 99 Abgeordnete verhindern zu können. Mit den Stimmen der Konservativen und der umgefallenen Mehrheit der Nationalliberalen wurde das Gesetz dann 1878 gegen die SPD, das Zentrum und eine Minderheit von Nationalliberalen verabschiedet.

Neben dem Sozialistengesetz wurden die Nationalliberalen durch die Schutzzollfrage unter Druck gesetzt, als im sogenannten „Gründerkrach“ Mitte der 70er Jahre Forderungen zur Einführung von Schutzzöllen aufkamen. Bis dahin gehörte der Freihandel zum gesamtliberalen Credo. Jetzt begannen vor allem die Eisen- und Stahlproduzenten an Rhein und Ruhr, Einfuhrzölle zum Schutz ihrer Produktion zu verlangen. Bismarck nutzte diese Lage umgehend aus und brachte die Konservativen, die zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs von der Abkehr vom Freihandel überzeugt waren (die Agrarkrise begann gerade erst), nach intensiver Bearbeitung dazu, der Einführung von (moderaten) Schutzzöllen zuzustimmen. 1879 verabschiedete der Reichstag mit den Stimmen der Konservervativen, des Zentrums und einer Minderheit von Nationalliberalen das erste Schutzzollgesetz für Getreide und Eisen. Damit war die Einheit der Nationalliberalen auch wirtschaftspolitisch dahin.

1880, als es um die erste Verlängerung des Sozialistengesetzes ging, spalteten sie sich offiziell. „Letzten Endes … ist die Partei daran zerbrochen. Denn sie zerstörte mit ihrem Votum das Fundament gemeinsamer Überzeugungen, auf dem ihr Zusammenhalt beruhte.“ (Gall, S. 573) Die „Sezession“, ein linker Flügel der Partei, der mit Handel und Export verbunden war und für Freihandel, gegen das Sozialistengesetz und für den Ausbau der Rechte des Reichstags eintrat, organisierte sich selbständig. Bei den Reichstagswahlen 1881 erhielten die Nationalliberalen nur noch 45 Reichstagsmandate. Parallel dazu ging ihr Einfluß in Preußen selber zurück. Bei den Landtagswahlen 1879 bekamen sie 104 statt vorher 169 Sitze und 1882 nur noch 66 Sitze. Gleichzeitig ging Bismarck auch gegen die Liberalen vor, die bis dahin im Staatsapparat, in Verwaltung und Justiz, wichtige Posten besetzt hatten, entließ sie oder verhängte Maulkörbe.

Mit seinem Schwenk vollzog Bismarck Ende der 70er Jahre den „Übergang von einer höchst dynamischen Politik der ‚konservativen Revolution‘, des Versuchs, die Vergangenheit im Hegelschen Doppelsinn in der Gegenwart und in der Zukunft ‚aufzuheben‘, zu einer ganz perspektive- und zukunftslosen bloßen Reaktionspolitik im Geiste des ‚Nach uns die Sintflut‘ eines Ludwig XV oder des späten Metternich. Aus dem ‚weißen Revolutionär‘ wurde endgültig der Zauberlehrling, der die auch von ihm selbst geweckten Kräfte der Zukunft mit vergeblichen Beschwörungsformeln zu bannen versuchte.“ (Gall, S. 599) Die zehnjährige Zusammenarbeit mit den Liberalen konnte einen anderen Schein erwecken. Aber selbst wenn Bismarck gewollt hätte (was zu keinem Zeitpunkt der Fall war), wäre jede Maßnahme zur Kontrolle der Regierung durch den Reichstag, d.h. auch der kleinste Schritt zur Parlamentarisierung des Reichs, am Widerspruch von Kaiser und Militär gescheitert. Der Kurswechsel von 1878/79 in der Innen- und Wirtschaftspolitik bedeutete keine „zweite“ Reichsgründung, sondern sicherte die Grundlagen des Gesellschaftsvertrags von 1866/70, indem er die Bourgeoisie von der Macht fernhielt.

Nach dem Weggang der linksliberalen „Sezession“ dominierte der schwerindustrielle Flügel die Partei. Die verbliebenen Nationalliberalen befürworteten die Fortdauer der Sozialistengesetze ebenso wie die neuen Schutzzölle und baten darum, die Stiefel, die sie soeben getreten hatten, auch noch lecken zu dürfen, indem sie die weitere Unterstützung der Regierung Bismarck auf ihre Fahnen schrieben. 1884 gaben sie sich ein neues „Heidelberger“ Programm, in dem keine Rede mehr von der früher geforderten Verantwortlichkeit des Reichstags war. Man wollte nur noch die „Rechte des Reichstags verteidigen, falls deren Minderung versucht werden sollte.“ Mit diesem Programm verzichtete der bestimmende Teil der industriellen Bourgeoisie öffentlich auf den Machtanspruch und stellte sich selber eine Kapitulationsurkunde aus.

2. Die Abwendung von Rußland

Ursprünglich waren die getreideproduzierenden preußischen Großgrundbesitzer Anhänger des Freihandels gewesen. Sie exportierten in die anderen Teile des Deutschen Bundes, nach Skandinavien und nach Großbritannien, der Vormacht des Freihandels. Diese Interessenlage war auch eine Voraussetzung für das Zusammenwirken mit dem Bürgertum gewesen, weil „nämlich die traditionelle Elite des Landes, der grundbesitzende Adel der ostelbischen Gebiete, durch die vollständige wirtschaftliche Liberalisierung in seiner bisherigen ökonomischen und gesellschaftlichen Stellung nicht bedroht, sondern im Gegenteil begünstigt wurde.“ (Gall, S. 397)

Mitte der 70er Jahre setzte in ganz Europa eine lang dauernde Agrarkrise ein, ausgelöst durch die Überflutung der Agrarmärkte mit russischem und amerikanischem Getreide. Rußland war nach dem verlorenen Krimkrieg daran gegangen, seine unabweisbar gewordene industrielle Modernisierung durch den Export von Getreide zu finanzieren, und hatte zu diesem Zweck große Neulandgebiete in der Schwarzerdezone unter den Pflug genommen, deren Ernten jetzt auf den Markt kamen. Gleichzeitig trat das Getreide aus Nordamerika in die Konkurrenz, weil die Inbetriebnahme neuer Eisenbahnlinien in den USA und insbesondere die Dampfschiffahrt die Transportkosten enorm senkten.

Die Agrarkrise demonstrierte, dass die Entwicklung des Kapitalismus in der ostelbischen Landwirtschaft den „point of no return“ noch nicht erreicht hatte. Möglicherweise wäre die ganze Geschichte anders gelaufen, wenn die Agrarmärkte sich störungsfrei weiterentwickelt hätten, wie sie dies in den Jahrzehnten zuvor getan hatten. Dann hätte es vielleicht eine allmähliche Umwandlung gegeben und das altpreußische Landjunkertum wäre sanft entschlafen, um irgendwann als Teil der bürgerlichen Gesellschaft und Produktionsweise wieder aufzuwachen. So aber war Resultat der Krise keine forcierte Entwicklung der agrarischen Produktivität, um der ausländischen Konkurrenz Paroli zu bieten, d.h. keine beschleunigte Entwicklung des Kapitalismus in der Großlandwirtschaft Preußens, sondern eine Verstärkung des Kampfes gegen die Auswirkungen des Kapitalismus. Von jetzt an klammerten sich die Rittergutsbesitzer an die Staatsmacht nicht mehr nur, um ihre gesellschaftliche Stellung und privilegierte Posten in Armee und Verwaltung zu behalten, sondern um ihre ökonomische Existenz zu sichern.

Der Zusammenbruch des Getreideexports ließ sich durch die steigende Nachfrage aufgrund der Bevölkerungszunahme in Deutschland selber wettmachen, wenn der innere Markt geschützt wurde. Bei der ersten Festlegung 1879 noch von eher symbolischer Wirkung, gewann der agrarische Zollschutz in der Folgezeit substantielle Bedeutung. Von anfangs 10 Mark je Tonne Getreide stieg er 1885 auf 30 und 1887 auf 50 Mark. Demgegenüber hatten die industriellen Schutzzölle weit geringere Bedeutung, wie sich an den Zolleinnahmen des Reichs ablesen läßt. 1913 nahm das Reich 414 Millionen Mark durch Agrar- und 55 Millionen Mark durch Industriezölle ein; die Agrarzölle machten 47 % und die Industriezölle 6 % der gesamten Zolleinnahmen aus; die übrigen Zolleinnahmen entfielen hauptsächlich auf Finanzzölle. (Gerloff, S. 28) Für die Schwerindustriellen waren die Schutzzölle nicht lebensnotwendig; sie dienten eher als Kitt für die Verbindung mit den Großgrundbesitzern.

Die Einfuhrzölle für andere Agrarprodukte als Getreide waren in der Praxis zu vernachlässigen. Dagegen wirkte sich um so mehr aus, dass die Einfuhr von Lebendvieh und Schlachtfleisch zur gleichen Zeit durch den Erlaß veterinärpolizeilicher Vorschriften im Zeichen der Seuchenverhütung unterbunden wurde, mit der Folge, dass die Fleischpreise in Deutschland erheblich über die im Ausland stiegen. Für die fleischproduzierenden Bauern wirkte sich die Verteuerung des Futtergetreides also nicht negativ aus, weil sie die Mehrkosten an die Konsumenten weitergeben konnten, und dem sonst drohenden Aufbegehren von Bauern gegen die preußischen Großgrundbesitzer war der Boden entzogen. Die nichttarifären Einfuhrhindernisse hatten überdies den Vorzug, dass sie nicht vom Reichstag beschlossen werden mußten, eine öffentliche Auseinandersetzung also unterblieb. Unter diesen Bedingungen war die junkerliche Gefolgschaft der Bauern im BdL materiell begründet. Allerdings funktionierte dieses System nur, solange die Großgrundbesitzer eine privilegierte Beziehung zur Staatsmacht hatten. Gegen Ende der Weimarer Republik verloren sie ihre Vorherrschaft im BdL an die NSDAP, als ihr Zugriff auf die Staatsmacht nicht mehr so direkt war wie zur Kaiserzeit und sie unter krisenhaft zugespitzten Verhältnissen die Subventionen des Staats in Form der Osthilfe alleine beanspruchten.

Die Behinderung des Getreideimports aus Übersee war außenpolitisch zu vernachlässigen, weil die USA für Deutschland noch kaum eine Rolle spielten. Dagegen wirkten sich die Zölle im Verhältnis zu Rußland um so mehr aus. Die deutsche Einigung war von Rußland toleriert worden, weil dieses nach seiner Niederlage im Krimkrieg 1856 an Einflußmöglichkeiten verloren hatte. Nachdem Frankreich durch den Verlust Elsaß-Lothringens zum dauerhaften Gegner Deutschlands geworden war, wäre es um so wichtiger gewesen, sich Rußland nicht zum Feind zu machen, um eine Zweifrontenstellung zu vermeiden. Die Erschwerung der Einfuhr russischen Getreides durch die Agrarzölle wurde aber durch die Finanzpolitik noch verschärft, als die deutsche Regierung im November 1887 den deutschen Kapitalmarkt für russische Werte durch ein „Lombardverbot“ sperren ließ (russische Staatspapiere wurden zu nicht mündelsicheren Anlagen erklärt). Bismarcks Motiv bei dieser Maßnahme war u.a. die Sorge vor der Finanzierung russischer Westbahnen, die bei einem Konflikt mit Deutschland zarische Truppen in wenigen Tagen an die Grenze transportieren konnten. Neben militärpolitischen Bedenken spielten die wirtschaftlichen Interessen der Großgrundbesitzer eine Rolle, denn die neuen Eisenbahnlinien hätten die Transportkosten für das russische Getreide gesenkt. Aus demselben Grund verhinderten die Konservativen jahrzehntelang den Bau eines „Mittellandkanals“ zwischen West- und Ostdeutschland, weil dadurch der Transport überseeischen Getreides nach Deutschland hinein verbilligt worden wäre; erst 1920 konnte sein Bau beschlossen werden.

„Auf diese Weise wurde das ökonomische Fundament der russisch-französischen Allianz von 1894 von Berlin selber mitgebaut. Als zu den Agrarzöllen noch der ‚kalte‘ Finanzkrieg hinzukam, blieb Rußland unmittelbar vor dem Durchbruch seiner Industriellen Revolution – und das hieß: in einer Phase schier unbegrenzter Kapitalnachfrage – nur der Weg nach Paris übrig“. (Wehler 1995, S. 976) Außenpolitisch konnte Bismarck den sich öffnenden Graben zu Rußland durch den „Rückversicherungsvertrag“ mit dem Zaren noch überbrücken. Aber wirtschaftspolitisch wurde das Verhältnis mehr und mehr untergraben.

3. Bismarcks Scheitern und das Bonapartismus-Problem

Auch nach der Zurechtstutzung der Nationalliberalen stand der Reichskanzler immer wieder vor dem Problem, dass er eine Reichstagsmehrheit benötigte, um zu regieren, d.h. Gesetze verabschieden zu lassen. „Die Mittel, die Bismarck zur Mehrheitsgewinnung einsetzen mußte, wurden immer bedenklicher. 1881 war es eine infame Diskreditierung des Liberalismus, 1884 folgte das Auftrumpfen mit einem ‚zweiten Reich‘ in Übersee, die Ausbeutung des Konflikts mit London und das Hochpeitschen des Englandhasses. 1887 mußten Kriegsgefahr und Rüstungspsychose fabriziert werden, um dem ‚Kartell‘ zum Siege zu verhelfen.“ (Wehler 1995, S. 992)

Anfang der 80er Jahre unternahm er den Versuch, den Einfluß des Reichstags durch den Aufbau eines wirtschaftsständischen Ersatzparlaments, d.h. durch die Trennung der politischen von den wirtschaftlich-sozialen Interessen, einzuschränken. Als Vorbild für das Reich ließ er in Preußen einen für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen zuständigen „Volkswirtschaftsrat“ einrichten, der sich aus Mitgliedern aller Berufsstände zusammensetzte, darin eingeschlossen Handwerker und Arbeiter. Auf Reichsebene war der wichtigste Schritt die Einführung einer Sozialversicherung für die Arbeiter (Alters-, Kranken- und Unfallversicherung), die zwei Zielen diente: zum einen sollte durch die überwiegend staatliche Finanzierung insbesondere der Rentenansprüche eine konservative, staatsloyale Gesinnung in der Arbeiterschaft gefördert werden. Zum zweiten sollten die Institutionen der neuen Sozialversicherung die Vertreter von Unternehmern und Arbeitern umfassen, aber der Regie des Staates unterliegen und als Vorstufe für einen Reichsvolkswirtschaftsrat dienen. Damit konnte Bismarck sich jedoch nicht durchsetzen. 1889 wurde zwar noch die Alters- und Invalidenversicherung eingeführt, aber zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, dass es für die weitergehenden Pläne, d.h. für die Selbstentmachtung des Parlaments, unter keinen Umständen eine Reichstagsmehrheit geben würde. Daraufhin nahm er von dem weiteren Ausbau der Sozialversicherung Abstand.

Statt dessen versuchte er erneut die „Sozialistengefahr“ einzusetzen, um den Reichstag zu schwächen. Obwohl er so wenig wie elf Jahre vorher an eine ernsthafte Bedrohung durch die Sozialdemokratie glaubte (nach den Wahlen 1887 verfügte die SPD nur über 11 von insgesamt 397 Reichstagsmandaten), schlug er 1889 die Verschärfung und Entfristung des Sozialistengesetzes vor. Als sein Gesetzentwurf abgelehnt wurde, ließ er den Reichstag vorzeitig auflösen. Anders als im Jahrzehnt zuvor fiel das Wahlergebnis für die Regierung 1890 aber schlechter statt besser aus. Daraufhin erwog Bismarck einen Staatsstreich. Die Verfassung und das allgemeine Wahlrecht sollten aufgehoben, die politischen Freiheiten eingeschränkt werden. Die zu erwartenden Unruhen in den Städten würde das Militär niederschlagen. „Ohne eine mehr oder minder verhüllte Militärdiktatur wäre das Kampfprogramm des ersten Reichskanzlers … nicht durchzusetzen gewesen.“ (Winkler, S. 261)

Die sozialen Interessen der Bourgeoisie wären weiterhin gewahrt worden, aber mit ihrer politisch-parlamentarischen Teilhabe an der Macht wäre Schluß gewesen. Bei der Reichsgründung war Bismarck, um die alte Ordnung zu retten, durch sein Bündnis mit der Bourgeoisie bis an die Grenzen dieser Ordnung gegangen. In der Reichsverfassung waren die Machtverhältnisse zwischen den beiden Klassen geronnen. In ihrer überaus künstlichen Konstruktion glich sie der Quadratur des Kreises. Sie sicherte die Vorherrschaft Preußens und der Junker und gab zugleich der Bourgeoisie parlamentarische Einflußmöglichkeiten; sie institutionalisierte den Machtkampf in Permanenz und verdammte ihn zur Ausweglosigkeit. Die Stellung des Reichskanzlers entsprach dem. Auf der einen Seite hatte er zwischen und gegenüber den Klassen großen Handlungsspielraum, auf der anderen Seite mußte er das Vertrauen des Monarchen besitzen, die Interessen der Junker wahren und zugleich immer eine Reichstagsmehrheit hinter sich haben, um regieren zu können. Obwohl ihm auf den Leib geschneidert, fiel Bismarck das Regieren auf dem Boden dieser Verfassung wegen der heterogenen Mehrheitsverhältnisse im Reichstag von Wahl zu Wahl schwerer, bis er zuletzt nur noch durch einen Staatsstreich gegen den von ihm selber gegründeten Staat eine Perspektive sah und die Regierbarkeit Deutschlands durch den Rückgriff auf das junkerliche Militär wiederherstellen wollte. Die Realisierung dieser Pläne hätte das Ende des Klassenkompromisses bedeutet, auf den das Reich gegründet war, und insoweit wirklich eine „zweite Reichsgründung“ zur Folge gehabt.

Für eine solche Politik benötigte er das Einverständnis Wilhelms II., seit 1888 neuer deutscher Kaiser. Dass dieser seine Zustimmung verweigerte und Bismarck gehen mußte, hatte seinen Grund nicht in persönlichen Differenzen oder der Geltungssucht des neuen Monarchen, sondern in der anderen Klassenpolitik, die er vertrat. Das Jahr 1890 offenbarte die Ausweglosigkeit der Situation: hinter den Gesellschaftsvertrag von 1866/70 konnte man nur durch eine offene Konterrevolution zurückgehen, und dazu waren Bismarck und die Junker nicht in der Lage. Umgekehrt waren aber auch die Junker aus ihrer Machtstellung nur durch eine Revolution zu vertreiben – und dazu war die Bourgeoisie genauso wenig in der Lage. Unabhängig von allem ökonomischen Fortschritt unterlag das Kaiserreich gesellschaftspolitisch einer grundlegenden Tendenz zu Stagnation und Fäulnis.

Wie ihre Zeitgenossen registrierten auch Marx und Engels die relativ selbständige Politik Bismarcks gegenüber den Klassen, seine „bonapartistische“ Stellung, die allerdings nicht auf einem Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sondern zwischen Junkertum und Bourgeoisie beruhte. Sie betrachteten ihn als „Nachahmer“ Bonapartes (MEW 7, S. 517) und Preußen-Deutschland als „bonapartistische“ Monarchie (vgl. u.a. MEW 17, S. 543; MEW 18, S. 258 f, 512 f). Dieser Bonapartismus wurde von Engels als „bürgerliche“ Herrschaftsform betrachtet, als „eine moderne Staatsform, die die Beseitigung des Feudalismus zur Voraussetzung hat.“ (Ergänzung der Vorbemerkung von 1870 zu „Der deutsche Bauernkrieg“, 1874, MEW 18, S. 513) Angesichts der ersten Regierungsjahre in dem soeben gegründeten Nationalstaat gelangte er zu der Schlußfolgerung: „Somit hat also Preußen das sonderbare Schicksal, seine bürgerliche Revolution, die es 1808 – 1812 begonnen und 1848 ein Stück weitergeführt, Ende dieses Jahrhunderts in der angenehmen Form des Bonapartismus zu vollenden.“ (Ergänzung der Vorbemerkung …, MEW 18, S. 513) Preußen und damit ganz Deutschland war also nach Engels Auffassung dabei, unter Bismarcks „bonapartischer“ Herrschaft die bürgerliche Revolution abzuschließen.

Als Engels dies Mitte der 70er Jahre schrieb, deutete vieles darauf hin, dass das Deutsche Reich tatsächlich auf diesem Weg war, angefangen vom Bruch Bismarcks mit den junkerlichen Konservativen bis hin zu seiner Wirtschaftspolitik. Die am Ende des Jahrzehnts von dem Reichskanzler eingeschlagene Politik demonstrierte jedoch, dass sein „Bonapartismus“ keineswegs bürgerlich war. Aber Engels korrigierte seine Auffassungen nicht, sondern hielt daran fest, und seiner Interpretation von der sich vollendenden „bürgerlichen“ Entwicklung des Kaiserreichs folgten die deutschen Sozialdemokraten ebenso wie Lenin und die marxistische Geschichtsschreibung.

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