3. Kriegsfragen

Warum der 1.Weltkrieg nicht mit Lenins Imperialismustheorie zu erklären ist

(Zuerst erschienen in: Karuscheit/Wernecke/Wollenberg/Wegner: „Macht und Krieg. Hegemonialkonstellationen und Erster Weltkrieg“; VSA, Hamburg 2014; umgearbeitet und erweitert)

Die gegenwärtig populäre Behauptung vom schlafwandlerischen Hineinstolpern der europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg weisen viele Marxisten mit dem Hinweis auf dessen imperialistischen Charakter zurück. Ausgesprochen oder nicht stützen sie sich dabei auf die Imperialismustheorie, die Lenin 1915-16 im Schweizer Exil ausarbeitete. So gängig diese Theorie jedoch immer noch ist – sie ermöglicht weder eine zutreffende Einschätzung des Kriegs noch der Fehler der Sozialisten.

1. Die Frage nach dem Wesen des Kriegs

Mit dem von ihm geführten Mehrheitsflügel der russischen Sozialdemokratie gehörte Lenin zu den wenigen Sozialisten, die den Anfang August 1914 begonnenen Krieg der europäischen Großmächte von Anfang an als reaktionär betrachteten und die Vaterlandsverteidigung in jedem beteiligten Land als Verrat an den Interessen des Proletariats verurteilten.

Im Gegensatz dazu rief die führende Partei der Sozialistischen Internationale, die deutsche Sozialdemokratie, zur Vaterlandsverteidigung auf. Die Kriegsentscheidung vollendete eine seit Jahren im Gang befindliche Entwicklung, die jetzt zum Durchbruch kam: die SPD war zu einer bürgerlichen Arbeiterpartei geworden. Allerdings war die Burgfriedenspolitik intern umstritten und nahmen mit der Dauer des Kriegs die Gegenstimmen zu. Im Brennpunkt der Kontroversen stand Karl Kautsky, als führender Theoretiker der SPD eine internationale Autorität des Marxismus und Schlüsselfigur des sogenannten „Parteizentrums“. Kautsky schwankte in seiner Stellung zum Krieg. Einerseits kritisierte er die Vaterlandsverteidigung, andererseits vermied er eine klare Verurteilung der Parteiführung und sorgte dafür, dass die Linken innerhalb der SPD blieben.

Wenn sich eine neue, revolutionäre Internationale gründen wollte, kam es in erster Linie auf die deutsche Arbeiterbewegung an, und dazu musste sich der linke Parteiflügel von Kautsky und der SPD trennen. Um diesen Prozess voran zu treiben, beschäftigte Lenin sich seit Ende 1914 intensiv mit der Imperialismusfrage und verfasste 1916 die Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. 1917 in Russland erschienen, wurde sie nach der Oktoberrevolution zu einem Schlüsselwerk des mittlerweile selbständig organisierten kommunistischen Flügels der Arbeiterbewegung.

2. Das Versagen der Imperialismuserklärungen

Bis dahin galt als „Imperialismus“ die koloniale Aufteilung der Erde, zu der die Großmächte im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts übergegangen waren.30 Die von den Marxisten dafür entwickelten Erklärungen knüpften meist an bürgerliche Theorien an und stellten darauf ab, dass die Kolonien wegen der dort vorhandenen Rohstoffe, vor allem aber als Absatzmärkte für die eigenen Industriewaren benötigt würden.31 Ohne zusätzliche äußere Märkte würde der Kapitalismus in eine dauerhafte Überproduktionskrise geraten und zusammenbrechen, das war nach dem gegebenen politökonomischen Verständnis die einhellige Meinung der Marxisten.

Als dieser Prozess Ende des Jahrhunderts im wesentlichen abgeschlossen war, Großbritannien 1898 mit Frankreich in Faschoda wegen des Sudans zusammen stieß, Deutschland zur selben Zeit den Anspruch auf einen „Platz an der Sonne“ erhob und zur Durchsetzung dieses Anspruchs eine gewaltige Schlachtflotte aufbaute, schloss man daraus, dass ein Kampf um die Neuverteilung des Kolonialbesitzes begonnen hätte, der die Gefahr eines großen Krieges in sich barg. Die Marokkokrisen von 1905 und 1911, in denen das Kaiserreich versuchte, auf Kosten Frankreichs ein zusammenhängendes Kolonialreich in Afrika zu erwerben, bestätigten diese Auffassung.

Während die parallel laufende Debatte um einen friedlichen oder gewaltsamen Übergang zum Sozialismus heftige Auseinandersetzungen hervorrief, gab es zur Frage des Imperialismus und der daraus resultierenden Kriegsgefahr keine nennenswerten Kontroversen. Der Kongress der sozialistischen Parteien Ende 1912 in Basel, der letzte vor dem großen Krieg, bezeichnete in diesem Sinn den Gegensatz „zwischen Deutschland auf der einen, Frankreich und England auf der anderen Seite“, der in der Marokkokrise ein Jahr zuvor an den Rand eines Kriegs geführt hatte, einhellig als „die größte Gefahr für den Weltfrieden“.

Ein politisches und theoretisches Fiasko

Vor diesem Hintergrund bedeutete der zwei Jahre später ausgebrochene Krieg ein vollständiges Fiasko für die Sozialisten. Nicht nur kämpften die Mitgliedsparteien der sozialistischen Internationale auf entgegengesetzten Seiten der Front, darüber hinaus war er eine Bankrotterklärung für die marxistische Theorie (bzw. ihre gegebene Fassung), denn sie konnte das Geschehen nicht erklären.

Zum einen waren keine wirtschaftlichen Gründe für den Krieg erkennbar. Es gab keine Wirtschaftskrise; im Gegenteil verlief der Akkumulationsprozess des Kapitals ungestört. Ebenso wenig gab es größere wirtschaftliche Konflikte zwischen den kapitalistischen Großmächten, die einen Krieg gerechtfertigt hätten. Am wenigsten Grund, aus ökonomischen Motiven in den Krieg zu gehen, hatte Deutschland, das aufgrund der überlegenen Produktivität seines Nationalkapitals Frankreich und Großbritannien hinter sich gelassen hatte und weiter auf dem Vormarsch war. Vor allem aber resultierte der Krieg nicht aus einem Kolonialstreit der imperialistischen Mächte, wie man das immer angenommen hatte. Weder bei Kriegsausbruch noch im Verlauf des Kriegs spielte die Kolonialfrage eine besondere Rolle.

Das aber hieß nach dem gegebenen Imperialismusverständnis, dass der Konflikt nicht als „imperialistisch“ einzustufen war. Schließlich ging er ja auch aus einem Zusammenstoß des industriell fortgeschrittenen Deutschland (an der Seite der Habsburgermonarchie) mit dem zurückgebliebenen zaristischen Russland hervor. Das verschaffte der SPD die Legitimation zur Vaterlandsverteidigung und machte es umgekehrt den Linken in der SPD so schwer, ihren Widerstand dagegen zu begründen. Schließlich hatte Engels noch 1891 vertreten, dass die deutschen Arbeiter bei einem Überfall Russlands die Zivilisation und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung an der Seite der Regierung verteidigen müssten, und Bebel hatte dies bis zu seinem Tod 1913 wiederholt.

Politik statt Ökonomie

Die Erkenntnis, dass das Deutsche Reich als der Hauptverursacher des Geschehens aufgrund innergesellschaftlicher Konflikte in den Krieg gegangen war, lag außerhalb des Horizonts der führenden Marxisten. Man sah zwar, dass heftige innenpolitische Auseinandersetzungen das Kaiserreich erschütterten und die schwerindustriellen Bündnispartner des junkerlichen Militäradels ihre Führungsstellung in der maßgeblichen bürgerlichen Partei verloren. Doch begriff man die Ereignisse nicht als Klassenkampf um die Macht zwischen preußischem Junkertum und einer gespaltenen Bourgeoisie, sondern interpretierte sie als Streitereien zwischen verschiedenen Abteilungen einer einzigen herrschenden (bürgerlichen) Klasse.

Da der Krieg also weder aus der Ökonomie noch aus gesellschaftlichen Widersprüchen herzuleiten war, blieb nur die Politik übrig, und diese Position verfocht Karl Kautsky. Zuvor hatte er selber jeden außenpolitischen Kurswechsel mit einer Wirtschaftskrise oder Prosperitätsphase begründet, doch jetzt war er ebenso wie die anderen Marxisten außerstande, ökonomischen Ursachen für das Geschehen dingfest zu machen. Deshalb charakterisierte er den Imperialismus nunmehr als „eine besondere Art kapitalistischer Politik“, als „die vom Finanzkapital bevorzugte Politik“. Damit war der Krieg keine Folge wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeit, sondern entsprang einer autonom betriebenen Außenpolitik – man war sozusagen aufgrund von Fehlentscheidungen der verantwortlichen Politiker dort hineingeschlittert.

Wenn die Kriegsentscheidung aber lediglich aus einer vom Kapital „bevorzugten“ Politik resultierte, war sie revidierbar, und dasselbe betraf die Entscheidung der SPD zur Vaterlandsverteidigung. Es gab demzufolge keinen Grund, die Partei zu verlassen und eine neue revolutionäre Partei zu gründen.

3. Die Abgrenzung von Kautsky

Die Auseinandersetzung mit diesem Standpunkt bildet den roten Faden der Leninschen Imperialismusschrift. „Aber streiten muss man über die Definition des Imperialismus vor allem mit dem führenden marxistischen Theoretiker der Epoche der sogenannten zweiten Internationale, d.h. des Vierteljahrhunderts von 1889-1914, mit K.Kautsky.“32 Ins Zentrum des Streits rückte der Führer der Bolschewiki Kautskys Theorie, „dass unter Imperialismus nicht eine ‚Phase‘ oder Stufe der Wirtschaft, sondern eine Politik, nämlich eine bestimmte, vom Finanzkapital ‚bevorzugte‘ Politik zu verstehen sei, dass der Imperialismus nicht mit dem ‚modernen Kapitalismus‘ ‚gleichgesetzt‘ werden könne“. In dieser nur-politischen Erklärung von Imperialismus und Krieg erblickte Lenin eine „Vertuschung der tiefsten Widersprüche“ und formulierte demgegenüber die Aufgabe, „sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus.“

Monopol- und Finanzkapital als Grundlage des Imperialismus

Um diese „ökonomische Grundfrage“ zu beantworten, machte er sich die Monopoltheorie des deutsch-österreichischen Marxisten Rudolf Hilferding zu eigen, die dieser in seinem 1910 erschienenen Werk „Das Finanzkapital“ ausgearbeitet hatte. In dieser „Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus“ vertrat Hilferding, ein Weggefährte Kautskys und in der Weimarer Republik Reichsfinanzminister, dass das Zeitalter der freien Konkurrenz vorüber sei. Durch Ausschaltung der Konkurrenz werde das Kapital zum Monopol und gleichzeitig würden Industrie-, Handels- und Bankkapital zu einem einzigen Kapital unter Herrschaft der Banken verschmelzen, zum „Finanzkapital“.

Der Monopolkapitalismus, der auf diese Weise an die Stelle des Konkurrenzkapitalismus trat, war seiner Auffassung nach kein Kapitalismus im eigentlichen Sinne mehr, sondern eine Übergangsformation hin zum Sozialismus. Dementsprechend konnten die von Marx im „Kapital“ entwickelten Gesetzmäßigkeiten keine Gültigkeit mehr beanspruchen; sie wurden aufgehoben durch Hilferdings Theorie des Finanzkapitals.

Wenn man das Werk des Wiener Wirtschaftswissenschaftlers im konkreten historischen Zusammenhang betrachtet, erkennt man dessen empirischen Hintergrund. Es verallgemeinerte einerseits damalige Kartellierungstendenzen hauptsächlich in der deutschen Schwerindustrie, andererseits das in Deutschland vorherrschende Universalbankensystems, dessen Verabsolutierung Hilferding zur Annahme einer Unterordnung des Industrie- und Handelskapitals unter die Banken brachte.

Die fehlerhafte Interpretation dieser Erscheinungen in Richtung auf eine neue Entwicklungsstufe des zu Ende gehenden Kapitalismus war nur auf Basis des unzureichenden Verständnisses der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie möglich, das in der Zweiten Internationale vorherrschte. Der dritte Band des „Kapitals“ war erst 1894 erschienen, die „Theorien über den Mehrwert“ kamen 1905-1910 heraus, die „Grundrisse“ der Kritik der politischen Ökonomie 1939-1941, und eine grundlegende Rezeption der von Marx gegebenen Darstellung des Gesamtzusammenhangs der kapitalistischen Produktion hatte bis dahin nicht stattgefunden. Deshalb stand Hilferding mit seinem irrigen Verständnis von Kapital und Konkurrenz nicht alleine und konnte seine Monopoltheorie ohne Widerspruch vertreten.

Lenin betrachtete das Werk Hilferdings als „höchst wertvolle Studie“. Ein näherer Vergleich seiner Imperialismusschrift mit dem „Finanzkapital“ zeigt, dass er in allen wesentlichen Punkten die Auffassungen Hilferdings wiedergibt.33 Auf dieser Linie schrieb er: „Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole“; seit Beginn des 20.Jahrhunderts hätten diese „in den fortgeschrittenen Ländern das völlige Übergewicht“ gewonnen, so dass an die Stelle des freien Spiels der Kräfte durch miteinander konkurrierende Kapitale das „Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt“ getreten sei. In Kurzform hieß dies, „dass der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist“.

Lenins Imperialismusbegriff

Die Übernahme der ökonomischen Theorie Hilferdings war indessen nur der erste Schritt. Im Zusammenhang mit dem Übergang zum Monopol unterstellte Lenin weitreichende gesellschaftspolitische Veränderungen, die ihn dazu brachten, die Auffassungen von Marx auch auf diesem Gebiet für überholt zu halten.

Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus hatten einen allgemeinen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und der Durchsetzung der (bürgerlichen) Demokratie angenommen. Diesen Zusammenhang sah Lenin nunmehr durch das Monopol aufgelöst. Entsprach dem freien Spiel der Kräfte im Konkurrenzkapitalismus die Demokratie, so entsprach dem Monopolkapitalismus die Reaktion nach innen und die Aggression nach außen: „Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie … – das ist das Ergebnis dieser Tendenzen.“ Oder in einem Satz komprimiert: „politisch ist Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion.“ Nach innen korrespondierte die ökonomische Herrschaft der Monopole demzufolge mit der Tendenz zum Abbau der Demokratie, nach außen mit der Gewalt der Kriege, die die entwickelten Staaten unvermeidlich miteinander führten: „Die Epoche der imperialistischen Kriege hat begonnen“.

Gleichzeitig beschränkte sich der Imperialismus nicht länger auf den Kampf um (nichtindustrialisierte) Kolonien als Absatzmärkte für die eigenen Industrieprodukte, wovon die bisherige Imperialismuserklärung ausging. Vielmehr meinte Lenin: „Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen)“.

Schließlich bot die Monopoltheorie auch eine Antwort auf die Frage nach der Ausbreitung des Reformismus in der Arbeiterbewegung. Die „ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung“ sah Lenin in den Extraprofiten, die das Monopolkapital sich aneignete und von denen es einen Teil dazu verwendete, eine obere Schicht der Arbeiter zu bestechen und eine verbürgerlichte Arbeiteraristokratie heran zu ziehen.

Ein neuer Imperialismusbegriff

Zusammen genommen unterschied sich der neue Imperialismusbegriff grundlegend von den vorherigen Erklärungen:

  • Hatte man den Imperialismus bis dahin aus der Kolonialpolitik abgeleitet, führte Lenin ihn auf den Monopolkapitalismus zurück;
  • galt als sein historischer Ursprung ursprünglich das letzte Viertel des 19.Jahrhunderts, datierte Lenin ihn auf den Beginn des 20.Jahrhunderts;
  • richtete er sich zuvor auf den Erwerb von Kolonien, unterstellte Lenin ihm den Trieb zur Annexion jedweder Gebiete;
  • war der Imperialismusbegriff bis dahin innenpolitisch neutral, so bedeutete er jetzt „Reaktion auf der ganzen Linie“.

Das Problem, auf das die Theoretiker der Zweiten Internationale, vorweg Kautsky, keine Antwort gefunden hatten, schien somit gelöst: Lenin hatte die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt, aus denen der Krieg resultierte; er hatte die „ökonomischen Grundfrage“ beantwortet, „ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich (die) Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus.“

Daraus folgte, dass der jetzige Krieg imperialistisch war, auch wenn er nicht aus einem Kolonialkonflikt hervorging. Mehr sagte Lenin in seiner Schrift nicht zu dem gerade stattfindenden Zusammenprall der Großmächte.

4. Mängel der neuen Theorie

Folgte man der hier in Kurzform vorgestellten Erklärung, stand fest, dass die Politik der Vaterlandsverteidigung in Deutschland genauso verfehlt war wie in Russland. Aber auch wenn diese Schlussfolgerung richtig war – die dafür zugrunde gelegte Monopoltheorie ist es nicht.

Doch wie sieht es mit der weitergehenden These der Durchsetzung eines allgemeinen Gewaltverhältnisses seit der Jahrhundertwende aus? Inwieweit entspricht die Behauptung von einer „Reaktion auf der ganzen Linie“ der gesellschaftlichen Realität in den kapitalistisch entwickelten Staaten? Um das zu überprüfen, ist es angebracht, einen Blick auf die innenpolitische Entwicklung in Frankreich, Großbritannien und Deutschland, d.h. in den wichtigsten „fortgeschrittenen“ Staaten Europas, zu werfen.

Reaktion auf der ganzen Linie?

In Frankreich versuchten mächtige konservativ-restaurative Kräfte seit Gründung der Dritten Republik, diese zu stürzen und einen autoritären Staat in Form einer neuen Monarchie zu errichten. Gestützt auf große Teile des Kleinbürgertums, konzentrierten sich diese Kräfte im Adel und im Offizierskorps der Armee; ihr politisches und ideologisches Zentrum bildete die katholische Kirche. Anfang des 20.Jahrhunderts gelangten die Widersprüche anlässlich der Dreyfus-Affäre zur Austragung – und endeten mit einer schweren Niederlage für die Partei der Restauration. Die kirchlichen Schulen wurden geschlossen, ein einheitliches staatliches Schulsystem eingeführt, die staatliche Besoldung der Bischöfe eingestellt und die katholischen Ordensgemeinschaften aufgelöst. 1905 machte das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche den Laizismus zur Staatsräson und besiegelte den Sieg der demokratischen Kräfte über die Reaktion. Nach dem Fall des bonapartistischen Kaisertums 1870 war dies für Frankreich ein erheblicher gesellschaftlicher Fortschritt, der künftig nicht mehr rückgängig zu machen war.

In Großbritannien spielte sich wenige Jahre darauf ein ähnlich gelagerter Kampf zwischen bürgerlichen und adelig-konservativen Kräften ab, der hier zwischen Unterhaus und Oberhaus, zwischen dem bürgerlich bestimmten „House of Commons“ und dem „House of Lords“ ausgetragen wurde. Im Prinzip war das Unterhaus schon seit langem das Herrschaftszentrum Großbritanniens, aber die Aristokratie verfügte nach wie vor über starke Machtpositionen, politisch konzentriert in der Stellung des Oberhauses, das die Arbeit des Parlaments durch sein Veto lahm legen konnte. Nachdem die Lords wichtige Gesetzesvorhaben des Unterhauses immer wieder blockiert hatten, kam es nach dem Jahrhundertwechsel zu einem offenen Kampf der Klassen, der wie in Frankreich mit einer Niederlage des Adels endete. Die Parlamentsakte von 1911 legte fest, dass ein Veto der Adelskammer das Inkrafttreten der vom Unterhaus verabschiedeten Gesetze nur noch zeitlich aufschieben, aber nicht mehr verhindern konnte.

Bei zwei wichtigen kapitalistischen Staaten muss man also feststellen, dass die These von einer „Reaktion auf der ganzen Linie“ nicht zutrifft.

Imperialismus, Adelsmacht und Demokratie

Anders scheint es hingegen in Deutschland zu sein. Hier waren nicht nur große Teile der Schwerindustrie kartelliert, bildeten also im Sinne Hilferdings und Lenins ein Monopol, sondern agierte die politisch mächtige Montanbourgeoisie auch als Trägerin der Reaktion. Gemeinsam mit dem herrschenden preußischen Gutsadel wandte sie sich gegen alle Bestrebungen zur Demokratisierung des Staats, verlangte die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts und wollte die Sozialdemokratie verbieten lassen. Nachdem ein versuchter Staatsstreich zur Realisierung dieser Ziele 1912 fehlgeschlagen war, wurde das Rechtsbündnis zur Kriegspartei und vermochte es schließlich, die Regierung in den gewünschten Krieg hinein zu treiben. Insoweit kann man davon ausgehen, dass Deutschland nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch die Blaupause für die von Lenin gezogenen Schlussfolgerungen bildete.

Sieht man indes genauer hin, muss man feststellen, dass dem Entschluss zum Krieg eine Kette von Rückschlägen für das junkerlich-schwerindustrielle Rechtsbündnis voranging: Die Montanindustriellen verloren die Herrschaft über die maßgebliche bürgerliche Partei der Nationalliberalen, die außerparlamentarische Stellung der Armee kam ins Wanken, die konservative Junkerpartei geriet im Parlament in die Isolierung und der Kanzler stellte sich ihrem Staatsstreichvorhaben in den Weg. Nicht ihre Siege, ihre Niederlagen führten das Lager der Reaktion in den Krieg.

Setzt man die drei genannten Länder in Beziehung, drängt sich daher eine andere Schlussfolgerung auf, als Lenin sie gezogen hat. Richtig ist, dass sich überall starke reaktionäre Kräfte gegen die Demokratie stemmten. Jedoch war nicht das neuartige Kapital, sprich das Monopol- oder Finanzkapital, der Hauptträger dieser Reaktion, sondern der nach wie vor mächtige Adel. Er kämpfte in unterschiedlichen Konstellationen um die Aufrechterhaltung seiner Machtstellung, je nach Gegebenheit im Bündnis mit Teilen des Bürgertums, der Kirche und dem Militär. Das führte in den Jahren vor dem Krieg in allen Staaten zu heftigen Auseinandersetzungen, die jeweils mit Niederlagen für die rückwärts gerichteten Kräfte endeten. Die Partei der Reaktion war nicht in der Lage, das Rad der Geschichte zurück zu drehen.

Die deutsche Gegenläufigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft

Im Prinzip traf dies auch auf Deutschland zu. Doch infolge der durch Bismarck vollzogenen Reichseinigung unter Führung Preußens war die Machtstellung des Militäradels hier stärker als in Frankreich und Großbritannien. Zwar geriet seine Vorherrschaft ins Wanken, doch zusammen mit dem rechten Flügel der Bourgeoisie war er in der Lage, den Kampf nach außen zu tragen und Deutschland einen Krieg zur Wiederbefestigung der instabil gewordenen alten Ordnung aufzuzwingen.

Für eine solche Beurteilung der Geschehnisse in den entwickelten Ländern ließ die Imperialismustheorie keinen Raum, im Gegenteil meinte Lenin, dass der gemeinsame Monopolcharakter der Ökonomie die imperialistischen Staaten innenpolitisch einander annähern würde. „Andererseits zeigt ein Vergleich, sagen wir, der republikanischen amerikanischen Bourgeoisie mit der monarchistischen japanischen oder deutschen, dass auch der stärkste politische Unterschied in der Epoche des Imperialismus in hohem Grade abgeschwächt wird – nicht etwa, weil er überhaupt unwichtig wäre, sondern weil es sich in allen diesen Fällen um eine Bourgeoisie mit ausgesprochen parasitären Zügen handelt.“ Demzufolge würde es zwischen den USA und Japan, Großbritannien, Frankreich und Deutschland keine wesentlichen politischen Unterscheidungen mehr geben, gleich ob sie als Monarchie oder parlamentarische Republik organisiert waren, denn maßgeblich sei der identische ökonomische Inhalt, nämlich das Monopolkapital und eine parasitäre Bourgeoisie. Die neue Epoche hätte also fertiggebracht, was die Revolution im 19.Jahrhundert versäumt hatte: mit der übergreifenden Durchsetzung des Monopol- und Gewaltverhältnisses hätten sich die Unterschiede zwischen den Staaten der bürgerlichen Revolution und dem Deutschen Kaiserreich eingeebnet.

Das aber hieß, dass die deutsche Gegenläufigkeit von wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Rückständigkeit sich quasi umkehrte, denn in der Logik der Imperialismustheorie resultierten die demokratischen Defizite des Kaiserreichs jetzt nicht mehr aus der steckengebliebenen bürgerlichen Revolution, sondern aus dem besonders entwickelten Monopolverhältnis. Als das am weitestgehenden monopolistische Land schien Deutschland auch politisch am weitesten zur „Reaktion nach innen und Aggression nach außen“ vorangeschritten zu sein.

5. Höchstes Stadium des Kapitalismus?

Gleich zu Beginn des Kriegs, noch vor Erarbeitung seiner Imperialismusschrift, hatte Lenin eine bemerkenswerte Stellungnahme zum Krieg abgegeben, die die Probleme bei dessen Einschätzung offenbart. Im August 1914 verabschiedete eine Gruppe führender Bolschewiki eine von ihm verfasste Resolution, in der es hieß: „Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges.“ Der Krieg wird hier mit gegensätzlichen Merkmalen beschrieben – einerseits „bürgerlich“ bzw. „imperialistisch“, andererseits „dynastisch“. Insoweit kann von einem „klar ausgeprägten“ Charakter keine Rede sein. Im Gegenteil spiegelt sich hierin die Schwierigkeit wider, das widersprüchliche Wesen des Kriegs zu fassen.

Der Doppelcharakter des Kriegs

In demselben Sinn schrieb Lenin kurz darauf: „die äußerste Zuspitzung des Kampfes um die Märkte in der Epoche des jüngsten, des imperialistischen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern, die dynastischen Interessen der rückständigsten, der osteuropäischen Monarchien mussten unvermeidlich zu diesem Krieg führen und haben zu ihm geführt.“ Das benennt die Tatsache, dass Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungsstufen an dem Waffengang teilnahmen: auf der einen Seite fortgeschrittene bürgerliche Staaten wie Großbritannien und Frankreich, auf der anderen Seite rückständige osteuropäische Dynastien wie vorweg das zaristische Russland, aber auch das österreichisch-ungarische Habsburgerreich.

Dementsprechend trug der Krieg politisch zwei verschiedene Gesichter. Großbritannien und Frankreichs verteidigten im Kampf um die Märkte ihre koloniale Weltstellung (wobei für Frankreich die Rückeroberung Elsass-Lothringens wichtiger war), sie führten also einen bürgerlich-imperialistischen Krieg. Anders dagegen das rückständige Zarenreich, bei dem von einem Kampf um die Märkte keine Rede sein konnte; hier waren innenpolitische Gründe maßgeblich: die Angst vor der Revolution und das Streben nach Aufrechterhaltung der „dynastischen“, sprich zaristischen Herrschaft.

Das aber heißt, dass wir auf gesamteuropäischer Ebene dieselbe Problematik antreffen wie im Deutschen Kaiserreich, nämlich die Kombination zweier Arten von Krieg: einmal für bürgerlich-imperialistische Ziele, ein andermal für die Aufrechterhaltung der alten Ordnung. Beide Arten bzw. Seiten des Kriegs waren reaktionär und verdienten keine Unterstützung, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Doch wie war angesichts dieser widersprüchlichen Aspekte der Gesamtcharakter des Kriegs zu beurteilen?

Diese Frage wurde durch Deutschland entschieden, das im Zentrum des Kriegsgeschehens stand, und hier lag die Antwort auf der Hand. Lenin hielt das deutsche Kaiserreich ebenso wie die gesamte Zweite Internationale (bis auf wenige Ausnahmen) für einen bürgerlichen Staat wie Frankreich oder England. Zwar konstatierte er ab und zu das Vorhandensein junkerlicher Relikte, aber diese Relikte waren für ihn untergeordnet. Ausschlaggebend war, dass Deutschland der ökonomisch entwickeltste Staat Europas war, derjenige Staat, der am weitesten zum Monopolkapitalismus-Imperialismus vorangeschritten war.

Daher schien es keine Frage, dass in Deutschland ebenso wie in Großbritannien oder Frankreich die Bourgeoisie herrschte, und das bedeutete, dass seiner Auffassung nach die Sicherung der alten Ordnung lediglich für Russland kriegsbestimmend war, nicht aber für Deutschland und die anderen Länder, so dass der bürgerlich-imperialistische Charakter des Weltkriegs insgesamt überwog.

Eine Epoche der bürgerlichen Revolution

Dem entsprach das von Lenin befürwortete Revolutionsprogramm. In Russland, „das seine bürgerliche Revolution noch nicht vollendet hat“, sah er die Aufgabe „einer konsequenten demokratischen Umwälzung“ anstehen; „in allen fortgeschrittenen Ländern dagegen stellt der Krieg die Losung der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung“.34 Diese Losung wurde durch die Monopoltheorie untermauert, der zufolge der Imperialismus „charakterisiert werden muss als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus“, der „auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation“ trägt.

In dieser Schlussfolgerung einer historisch anstehenden sozialistischen Revolution kulminierte der fehlerhafte Ansatz der Imperialismusschrift, denn die bürgerliche Revolution war nicht nur in Russland noch nicht vollendet, sondern auch in Deutschland. Der Weltkrieg war kein Ausdruck des „höchsten Stadiums des Kapitalismus“, wie Lenin meinte; er ordnet sich vielmehr ein in das Auf und Ab einer langdauernden Epoche der bürgerlichen Revolution, in deren Zentrum nach der großen französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen Deutschland stand.

Durch die deutschen Einigungskriege 1864-1870 war es Bismarck gelungen, den Lauf dieser Revolution zu unterbrechen und den preußischen Gutsadel für weitere Jahrzehnte an der Macht zu halten. Doch unter dem unaufhaltsamen Druck der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung gerieten die Junker seit der Jahrhundertwende erneut in Bedrängnis, bis sie keinen anderen Ausweg mehr als die Flucht in den Krieg sahen, um dem Voranschreiten der Demokratie zu begegnen. Indes bewirkte dieser Versuch, das Rad der Geschichte aufzuhalten, das Gegenteil, denn unter den Belastungen des vierjährigen Waffengangs brach die alte Ordnung nicht nur im zaristischen Russland zusammen, sondern auch im Deutschen Kaiserreich.

Der „größte Mangel des revolutionären Marxismus in Deutschland“

Das Programm einer sozialistischen Revolution gab darauf keine geeignete Antwort, denn vorher musste die bürgerliche Revolution vollendet werden, und das hieß, dass die Arbeiterbewegung in einem demokratischen Bündnis mit dem ländlichen und städtischen Kleinbürgertum das Junkertum und die mit ihm liierte Montanbourgeoisie stürzen musste. Nicht „das Fehlen einer festgefügten illegalen Organisation“ war der „größte Mangel des gesamten revolutionären Marxismus in Deutschland“, wie Lenin 1916 in seiner Kritik an Rosa Luxemburg meinte35 – es war das Fehlen einer realitätstauglichen politischen Strategie der demokratischen Umwälzung.

Der am Ausgang des Kriegs unternommene Versuch, im Alleingang des Proletariats den Sozialismus zu erkämpfen, scheiterte mit Notwendigkeit. Anstelle der halben Revolution von 1918 kam es 1933 zu einer ganzen Konterrevolution, und in der Folge gelangte die Epoche der bürgerlichen Revolution in Deutschland erst nach einem weiteren Krieg unter gänzlich veränderten Bedingungen zum Abschluss.

Auf dem Boden einer Theorie, die mit der Wende zum 20. Jahrhundert das höchste Stadium eines sterbenden Kapitalismus angebrochen sieht, ist der Verlauf der deutschen Gesellschaftsgeschichte nicht nachvollziehbar.

1Zur Entstehung des Kriegs Karuscheit: Deutschland 1914 – Vom Klassenkompromiss zum Krieg, Hamburg 2014

2Zu Bethmanns politischem Konzept: Wollscheid

3Wehler, S.66

4Zu den deutschen Kriegszielen insgesamt Fischer, S.87 ff

5Fischer, S.146

6Zu Stresemanns durchgängigem Annexionsprogramm Birkelund, S. 99-104

7Fischer, S.149

8Fischer, S.90

9Fischer, S.95

10Holger Afflerbach: Die militärische Planung des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg; in Michalka, S.296 f

11Wollstein, S. 130, 132

12Hans-Jürgen Schröder: Demokratie und Hegemonie. Woodrow Wilsons Konzept einer Neuen Weltordnung; in: Michalka, S. 158 ff

13Werner Rahn: Strategische Probleme der deutschen Seekriegführung; in: Michalka, S.356 f

14Ragnhild Fiebig-von Hase: Der Anfang vom Ende des Krieges: Deutschland, die USA und die Hintergründe des amerikanischen Kriegseintritts am 6.April 1917; in: Michalka, S.125 ff

15Bohlmann, S. 266

16Tagebuch Riezler, zit. in: Wehler, S.174, 166, 171

17Fischer, S.279

18Fischer, S.271

19Rosenberg 1, S.141

20Rosenberg 1, S.147

21Rosenberg 1, S.151

22Wollscheid, S.152

23Zit. in Fischer, S.339

24Rosenberg 1, S.152

25Rosenberg 1, S.184 ff

26Craig, S.341

27Rosenberg 1, S.197

28Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik; in: Bracher u.a., S.24

29Rosenberg 1, S. 212

30Eric J.Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914; Frankfurt/M 1995; Gregor Schöllgen: Das Zeitalter des Imperialismus; München 2000

31Hans-Christoph Schröder: Sozialistische Imperialismusdeutung, Göttingen 1973; Wolfgang J.Mommsen: Imperialismustheorien, Göttingen 1977

32Dieses und die weiteren Zitate Lenins, soweit nicht anders vermerkt, aus: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, LW 22, S. 189-309

34Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (September 1914); Lenin Werke 21, S. 19 f

35Lenin: Über die Junius-Broschüre (Juli 1916); Lenin Werke 22, S. 312