Die zerbrochene Hegemonie

Dass ich erkenne, was die Welt
im Innersten zusammenhält

Der Weltkrieg als Kampf um die Herrschaft in Deutschland

(Zuerst erschienen in: Karuscheit/Wernecke/Wollenberg/Wegner: „Macht und Krieg. Hegemonialkonstellationen und Erster Weltkrieg“;
VSA, Hamburg 2014; leicht überarbeitet)

 

Vorbemerkung

Wer den Krieg 1914-18 als „Urkatastrophe“ Europas im 20.Jahrhundert betrachtet, versteht ihn meist als Auftakt zu einer Art 30jährigem Krieg, der den alten Kontinent umwälzte und erst nach einer weiteren Kriegskatastrophe zu einem neuen Gleichgewicht finden ließ, das im Westen unter US-Hegemonie stand. Verfolgt man diesen Ansatz weiter, erkennt man, dass im Zentrum des Geschehens der 1871 gegründete deutsche Nationalstaat stand. Von ihm aus nahmen die beiden Weltkriege ihren Ausgang, zugleich änderte er wie kein anderes Land die Staatsformen.

Doch was war die Triebfeder dieser Ereignisse? Gingen die wechselnden Regierungssysteme aus den Kriegen hervor oder waren innere Konflikte verantwortlich für den zweimaligen Weg in den Krieg? Wenn man weiß, dass in Deutschland wenige Jahre vor 1914 eine Krise von Gesellschaft und Staat einsetzte, die über Jahrzehnte anhielt, drängt sich der Gedanke auf, dass hierin möglicherweise die Ursache sowohl für die Kriege als auch für den Wandel der Staatsformen zu suchen ist. Das aber heißt, dass sich hinter der Erzählung vom 30jährigen Krieg eine andere Geschichte verbirgt, nämlich die Geschichte einer 1909 zerbrochenen Hegemonie, die letztlich erst nach 1945 unter anderen Vorzeichen neu begründet werden konnte.

Dieses Geschehen kann hier nur bis zur Entstehung der Weimarer Republik erzählt werden. In seinem Zentrum steht der große Krieg, der so viel und gleichzeitig so wenig änderte. Er beherrschte mehr als vier Jahre lang die Bühne der Geschichte, doch sein Ausgang wurde nicht auf den Schlachtfeldern entschieden, sondern hinter den Kulissen des Kriegstheaters in einem erbitterten Kampf um die Herrschaft in Deutschland. Auf den folgenden Seiten soll das innere Gesetz dieses Kriegs nachgezeichnet werden.1

 

I. Anfang und Ende der Bismarckschen Hegemonialordnung

Als Bismarck 1871 den deutschen Nationalstaat aus der Taufe hob, handelte er nicht aus nationalen Gründen, sondern um das alte Preußen gegen den Strom der Zeit zu bewahren. Alle fortschrittlichen Kräfte, Liberale wie Sozialisten, waren bis dahin davon ausgegangen, dass der natürliche – um nicht zu sagen „gesetzmäßige“ – Gang der Geschichte darauf hinauslief, dass die deutsche Einheit mit dem Ende des reaktionären Preußentums sowie einer parlamentarischen Herrschaft zusammen fallen würde. Nicht zuletzt entsprach dies den Erwartungen von Marx und Engels über den Zusammenhang von kapitalistischer Entwicklung, bürgerlicher Demokratie und nationaler Einheit.

1. Sammlungspolitik gegen die Demokratie

Doch indem die preußischen Truppen in drei Kriegen einen deutschen Nationalstaat erkämpften, spalteten sich die bürgerlichen Kräfte und wurde die Machtstellung des dem Untergang geweihten ostelbischen Junkertums für weitere Jahrzehnte bewahrt. Durch die Etablierung eines in seinen Rechten beschränkten Reichstags wurde die Bourgeoisie an der Herrschaft beteiligt und konnte die Politik des Reichs bis zu einem bestimmten Punkt gestalten, doch mit der Befehlsgewalt über die außerhalb der Verfassung stehende Armee behielt der Gutsadel das letzte Wort. Außerdem blieb der deutsche Hegemonialstaat Preußen, der zwei Drittel des Reichsgebiets und der Bevölkerung umfasste, mit Hilfe des hier fort geltenden Dreiklassenwahlrechts in der Hand der Aristokratie.

Die institutionelle Zementierung der Machtverteilung war indes nur die eine Seite. Bedeutsamer war, dass die Lösung der nationalen Frage das seit der 48er Revolution verhasste Preußentum wieder in der Gesellschaft verankert hatte. Darauf aufbauend betrieb Bismarck mit Hilfe des von ihm zur Schwächung des Bürgertums eingeführten allgemeinen Reichstagswahlrechts eine von ihm selber so genannte „Sammlungs-„, sprich Hegemonialpolitik. Mit Hilfe sozialer Zugeständnisse und einer geschickten Bündnisstrategie sammelte sie Kleinbürgertum und Bauernschaft um das Herrschaftsbündnis von Junkertum und Schwerindustrie herum und stütze die alte Ordnung so auch massenpolitisch ab. Auf dieser Grundlage kam es zu der für Deutschland charakteristischen Kombination von ökonomischer Entwicklung, preußischem Militarismus und innenpolitischer Stabilität.

Bei der fortgesetzten Fernhaltung der bürgerlichen Kräfte vom Zentrum der Macht kam dem ersten Reichskanzler die sich formierende Arbeiterbewegung zu Hilfe. Bei der Verabschiedung des Sozialistengesetzes 1878 noch künstlich von ihm hochgespielt, um die Liberalen zu spalten, wurde die von der Sozialdemokratie ausgehende Umsturzgefahr mit deren Entwicklung zu einer proletarischen Massenpartei zur Realität. Angesichts der Revolutionsdrohung zog die Mehrheit des Bürgertums, politisch repräsentiert durch die nationalliberale Partei mit der Montanbourgeoisie als Kern, es jetzt vor, freiwillig an dem Bündnis mit dem Militäradel festzuhalten und von dem Versuch einer Demokratisierung des Kaiserreichs Abstand zu nehmen. Lediglich der linke, auf Reichsebene einflusslose Flügel der Liberalen, der sich auf verschiedene Parteien aufteilte und das kleine und mittlere Bürgertum repräsentierte, trat weiter für eine volle Parlamentsherrschaft ein.

Die vorzugsweise von der Geschichtsschreibung der DDR unterstellte Verschmelzung von Junkertum und Bourgeoisie zu einer einzigen herrschenden (bürgerlichen) Klasse ist eine Chimäre. Weder konnte sich die kapitalistische, auf freier Lohnarbeit basierende Produktionsweise in den ostelbischen Gutswirtschaften durchsetzen, noch gelang es den bürgerlichen Kräften, Zugriff auf das innenpolitisch entscheidende Machtinstrument zu erhalten, das von den Gutsadeligen geführte Heer.

Auch außenpolitisch ging das von Bismarck verfolgte Konzept auf. Musste Preußen vorher als kleinste europäische Großmacht befürchten, gegenüber England, Frankreich, Russland und Österreich-Ungarn ins Hintertreffen zu geraten, nahm Preußen-Deutschland nach 1870 eine von allen Seiten anerkannte Stellung in der Mitte Europas ein. Mehr wollte Bismarck nicht. Mit der Begründung, dass Deutschland „saturiert“ sei, betrieb er in den 20 Jahren seiner Kanzlerschaft eine konservative, kontinental ausgerichtete und im letzten Grund junkerlich-preußisch fundierte Außenpolitik mit Russland als Angelpunkt.

2. Weltpolitik als bürgerliches Machtprogramm

Von Bismarck immer wieder zurück geschlagen, unternahm das bürgerlich-liberale Lager erst nach dessen Abdankung einen neuen Anlauf, um den Gutsadel von der Macht zu verdrängen. Das Instrument dafür war die Weltpolitik, zu der das Kaiserreich Ende des Jahrhunderts überging; sie verband innen- und außenpolitische Zielsetzungen zu einem umfassenden Machtprogramm.

Gestützt auf den Bau einer neuen Schlachtflotte, zielte sie zum einen auf die Erringung einer deutschen Weltmachtstellung mitsamt einem Kolonialreich. Darüber hinaus war sie ein inneres Hegemonialprogramm, das den bürgerlichen Kräften das politisch-gesellschaftliche Übergewicht über die Aristokratie verschaffen sollte, ohne die Frage der Demokratie aufzuwerfen. Sie signalisierte den Aufbruch von Handel und Industrie in die Welt, sollte den Wandel von einem Agrar-Industriestaat zu einem Industrie-Agrarstaat befördern, die militärischen Gewichte vom junkerlichen Landheer zur bürgerlichen Marine verschieben und über die Massen des Kleinbürgertums hinaus die Arbeiterschaft für den Imperialismus gewinnen.

Nicht zuletzt wurde sie von Wilhelm II mitgetragen, dem die Marine in seiner Funktion als Deutscher Kaiser direkt zugeordnet war (im Unterschied zum Heer). Ihr Architekt war der den Nationalliberalen nahestehende Bernhard von Bülow, seit 1897 Außenstaatssekretär und seit 1900 Kanzler des Reichs. Das von ihm entworfene Konzept vereinte bald das gesamte bürgerliche Lager einschließlich der linken Liberalen und (mit Abstrichen) der katholischen Zentrumspartei im Zeichen des Imperialismus.

Die Großagrarier, von Natur aus Gegner der maritimen Weltpolitik, ließen sich die Zustimmung zum kostenträchtigen Flottenbau durch eine Verfünffachung der Getreidezölle abkaufen, um so ihre niedergehenden Gutswirtschaften vor der Konkurrenz durch das billigere ausländische Getreide zu schützen. Der zur Jahrhundertwende durch Bülow vermittelte Flottenbau-Zollkompromiss zwischen Nationalliberalen und Konservativen erneuerte den von Bismarck etablierten Klassenkompromiss zwischen Junkertum und Bourgeoisie und bekräftigte den Anschein einer einzigen herrschenden (bürgerlichen) Klasse, die lediglich verschiedene Abteilungen aufwies.

3. Ein hegemoniales Vakuum

Währenddessen löste sich die Grundvoraussetzung dieses Bündnisses, die gemeinsame Bedrohung durch eine revolutionsbereite Arbeiterbewegung, langsam auf, denn mit den Gewerkschaften als Vorreiter gewann der Reformismus in der Sozialdemokratie immer mehr an Boden. Auch wenn der linke Flügel an revolutionären Positionen festhielt, hörte die SPD als Ganzes auf, eine revolutionäre Partei zu sein, und damit reiften die Bedingungen für ein innenpolitisches renversement des alliances heran.

Zum Durchbruch gelangte diese Entwicklung im Jahre 1909 infolge eines heftigen Steuerstreits. Da eine von der Regierung geplante Erbschaftssteuer zum Ausgleich des durch den Flottenbau überstrapazierten Staatshaushalts auch den Großgrundbesitz erfassen sollte, verließen die Konservativen das „Kartell der staatstragenden Kräfte“ mit den Liberalen und stürzten den Kanzler. Angesichts der mittlerweile unübersehbaren Verbürgerlichung der Sozialdemokratie waren die Nationalliberalen anschließend nicht mehr bereit, in das alte Bündnis zurück zu kehren. Ihr mächtiger schwerindustrieller Flügel, der Garant des Zusammengehens mit den Konservativen, geriet in die Minderheit und verlor die Herrschaft über die Führungspartei des Bürgertums.

Der Steuerstreit war deshalb von solch fundamentaler Tragweite, weil er das Hegemonialgefüge zerstörte, das 40 Jahre lang die innere Stabilität des Kaiserreichs garantiert hatte. Als der Reichsgründungskompromiss zerbrach und die bisherigen Träger des Reichs einander gegenübertraten, war Bismarcks Werk am Ende – nicht seiner staatlichen Form, wohl aber seiner gesellschaftlichen Basis nach.

Die Alternative zu dem aufgelösten Herrschaftspakt wäre ein Bündnis von Bürgertum und Arbeiterbewegung gewesen, das unter dem Schlagwort „von Bassermann bis Bebel“ (die Vorsitzenden der Nationalliberalen und der SPD) auch gefordert wurde. Über demokratische und soziale Zugeständnisse hinaus hätte das von dem bürgerlich-liberalen Lager allerdings den Verzicht auf die Weltpolitik verlangt, denn so konzessionsbereit die sozialdemokratische Führung auch sein mochte, in der Frage des Imperialismus hatte sie wegen der Haltung der Arbeitermassen wenig Handlungsspielraum.

Die Nationalliberalen hätten also ihr bisheriges Machtkonzept aufgeben müssen, um das Risiko eines Zusammengehens mit der SPD einzugehen, das viele Unwägbarkeiten enthielt und zur Abspaltung ihres schwerindustriellen Flügels geführt hätte. Dazu war die Parteiführung nicht bereit; sie verharrte auf Distanz zu den Konservativen, wahrte aber die gleiche Distanz zur Sozialdemokratie. Mit den einen nicht mehr, war sie mit den anderen noch nicht koalitionsbereit. Anstelle eines neuen Bündnisses entstand daher ein hegemoniales Vakuum mit der Folge, dass im Reichstag keine verlässlichen Mehrheiten für die Gesetzgebung mehr zustande kamen und das Land unregierbar wurde – ein Zustand, der das kommende Vierteljahrhundert anhalten sollte. Deutschland geriet 1909 in eine Staatskrise in Permanenz.

II. Das innere Gesetz des Kriegs

Der erste Kanzler, der mit dieser Situation konfrontiert war, war Bülows Nachfolger Bethmann Hollweg, in dessen Politik sich die inneren wie äußeren Widersprüche des Reichs bündelten.2 Um überhaupt regieren zu können, musste er eine Politik der „Diagonale“ betreiben, d.h. sich auf wechselnde Parlamentsmehrheiten von Konservativen, Liberalen und Zentrum stützen. In den entscheidenden Fragen der Innen- und Außenpolitik war er handlungsunfähig.

1. Ein Krieg als Ausweg aus der Sackgasse

Als Kompromisskandidat zum Kanzler geworden, waren die Konservativen mit seiner Ernennung einverstanden gewesen, weil er ein Gegner der Welt- und Schlachtflottenpolitik war und von ihm kein neues Steuergesetz zur Flottenfinanzierung zu erwarten stand. Für die Mehrheit der Nationalliberalen auf der anderen Seite war ausschlaggebend, dass er nicht als innenpolitischer Scharfmacher galt (er war vorher preußischer Innenminister) und einer weiteren Annäherung an die SPD nicht im Wege stehen würde. Doch aus eben diesen Gründen wandte sich das jeweils andere Lager gegen seine Politik.

Außenpolitisch blockierte ihn das bürgerlich-liberale Lager, weil er im Verhältnis zu Großbritannien eine Entspannungs- und Abrüstungspolitik verfolgte, während die Nationalliberalen Front gegen London machten, das Deutschland den „Platz an der Sonne“ verwehrte, und in der Marokkokrise 1911 sogar nach einem Krieg gegen das „perfide Albion“ riefen.

Innenpolitisch blockierten ihn die Konservativen mit Unterstützung des rechten Minderheitsflügels der Nationalliberalen, weil er eine vorsichtige Reformpolitik betrieb, um die Arbeiterbewegung an den Staat heran zu ziehen. Dagegen verlangte das Rechtsbündnis die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts und ein Verbot der SPD. Stürzen konnte ihn keines der beiden Lager, weil jedes alleine dafür zu schwach war und ihre Gegensätze ein gemeinsames Vorgehen verhinderten. Deshalb reichte der Rückhalt durch Wilhelm II aus, um im Amt zu bleiben, mehr aber nicht.

Die Wahl 1912 trieb die innere Krise weiter voran. Während der Anstieg der SPD auf mehr als ein Drittel der Wählerstimmen bei Bethmann die Überzeugung festigte, dass ein Ausgleich mit der Arbeiterpartei unumgänglich sei, versuchten Gutsadelige und Schwerindustrielle gemeinsam, einen Staatsstreich in Gang zu bringen, um die SPD zu zerschlagen und das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen. Als Kanzler und Kaiser sich dem widersetzten, schwenkte das Rechtsbündnis auf einen Kriegskurs ein, denn es hatte keine andere Möglichkeit mehr, um die alte Ordnung zu retten.

Zwar versuchte der Kanzler weiterhin, seine Politik der Entspannung nach außen und des Ausgleichs nach innen fortzuführen. Aber gegen die geballte Macht der zur Kriegspartei gewordenen preußisch-schwerindustriellen Reaktion mit ihren Parteigängern in Politik, Verwaltung und Wirtschaft kam er nicht an, zumal die Nationalliberalen die Kriegspartei mit ihrer Konfrontationspolitik gegen Großbritannien unterstützten. Innen- wie außenpolitisch stand ihm faktisch die SPD am nächsten, doch zu dieser Partei konnte er als kaiserlicher Kanzler keine offiziellen Beziehungen aufnehmen, sondern musste sich im Gegenteil in der Öffentlichkeit von ihr distanzieren.

Angesichts des wachsenden Drucks entschloss sich Bethmann in der Julikrise 1914 zu einem außenpolitischen Vabanquespiel, das durch Zurückdrängung Russlands die äußere Lage des Reichs verbessern und seiner Regierung im Innern neue Spielräume verschaffen sollte. Dabei war er sich der damit verbundenen Kriegsgefahr bewusst, nahm das Risiko aber in Kauf und löste auf diese Weise den Krieg aus, den er eigentlich nicht wollte.

2. Weiterführung der inneren Gegensätze

Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz hatte Deutschland bei Kriegsbeginn keine Kriegsziele, das unterscheidet 1914 grundsätzlich von 1870 und 1939. Weil der Krieg seinem Wesen nach eine Fortführung der inneren Gegensätze mit anderen Mitteln war, bezogen sich die entscheidenden Kriegsziele auf die Machtverhältnisse im Innern und fielen gemäß der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte höchst unterschiedlich aus.

Die Allianz von Junkertum und Schwerindustrie zielte in Weiterführung ihrer bisherigen Politik auf die Niederhaltung der Arbeiterbewegung und der Demokratie. Da nur ein Sieg die dafür notwendige Autorität verschaffen würde, führte der Militäradel den Krieg trotz der sich im Lauf der Zeit verschlechternden Lage kompromisslos bis zum Ende fort und unterband jeden Versuch eines Friedensschlusses, der die Gefahr der Demokratisierung in sich barg.

Die Arbeiterbewegung verfolgte diametral entgegengesetzte Ziele. Die Arbeitermassen nahmen an dem Krieg teil, weil sie der Überzeugung waren, dass Deutschland sich gegen einen Angriff verteidigen müsse. Aber wenn sie schon ihr Leben für den Staat einsetzten, erwarteten sie, dass dieser sie nicht länger als Staatsbürger zweiter Klasse behandelte. Der rechte Sozialdemokrat Eduard David brachte diese Erwartungen mit dem Satz auf den Punkt, dass die SPD statt des Generalstreiks einen Krieg für die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts führen würde. Allerdings brachte die Parteiführung noch nicht einmal den Mut auf, diese Forderung öffentlich mit der Bewilligung der Kriegskredite zu verbinden.

Das bürgerliche Lager war innenpolitisch wie seit 1909 gespalten und gelähmt. Während der rechte Flügel der Nationalliberalen gemeinsam mit den Konservativen gegen die Demokratie kämpfte, hielt die Parteiführung ihre Orientierung weiter in der Schwebe. Sie schwenkte nicht zurück auf die Positionen der Montanbourgeoisie, näherte sich aber andererseits auch nicht der SPD an. Gustav Stresemann, seit 1917 Parteivorsitzender, befürwortete in Reden eine Parlamentarisierung des Reichs, unternahm aber bis zum Ende des Kriegs keine praktischen Schritte dorthin.
Stattdessen überspielte die Parteiführung ihre innenpolitische Zerrissenheit wie in der Vorkriegszeit durch die imperialistische Wendung nach außen. Keine andere Kraft vertrat ein derart weitreichendes Annexionsprogramm wie die Nationalliberalen mit Stresemann an der Spitze.

Eine aussichtslose Konstellation

Die Linksliberalen der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) stellten ihre Forderung nach Parlamentarisierung des Reichs angesichts des Kriegs zunächst zurück. Erst in der zweiten Kriegshälfte, als die Hoffnungen auf einen „Siegfrieden“ schwanden, kamen sie darauf zurück und vertieften mit dieser Zielsetzung die Kooperation mit der SPD. Ähnlich verhielt sich die Zentrumspartei.

In allen kriegführenden Staaten hatte die lange Kriegsdauer eine zunehmende Machtkonzentration an der Spitze zur Folge. Aber während dies in Großbritannien mit Lloyd George und Frankreich mit Poincaré die bürgerliche Staatsführung war, konzentrierte sich die Macht in Deutschland immer mehr bei der junkerlichen Militärführung. Demgegenüber versuchte der Kanzler auch im Krieg, eine eigenständige Politik zu betreiben, darin eingeschlossen die vorsichtige weitere Öffnung zur SPD, und ging 1917 sogar so weit, die Vormachtstellung des Militäradels anzugreifen – mit dem Ergebnis, dass die Oberste Heeresleitung ihn stürzte und anschließend eine kaschierte Militärdiktatur ausübte.

Diese innere Konstellation war von Anfang bis Ende des Kriegs desolat. Welchen Ausgang auch immer der Waffengang nehmen würde – wie sollten die Beziehungen zwischen den Klassen auf dieser Grundlage gestaltet werden, damit eine neue gesellschaftliche Stabilität zustande kam?

Kriegsfinanzierung durch das Kleinbürgertum

Auch in der Frage der Kriegsfinanzierung setzte sich das innenpolitische Dilemma der Vorkriegszeit fort. Während in Großbritannien neue Steuern zur Deckung der Kriegskosten erhoben wurden, war das im Kaiserreich politisch nicht möglich. Eine Besteuerung von Einkommen oder Besitz hätte wie bei der 1909 gescheiterten Erbschaftssteuer die Gutswirtschaften einbeziehen müssen, und das war zu einem Zeitpunkt, wo das Heer unter Führung der Junker im Feld stand, undenkbar. Umgekehrt hätte eine Erhöhung der Massenverbrauchssteuern ohne gleichzeitige Besitzbesteuerung den Burgfrieden mit der Arbeiterschaft gefährdet, so dass auch diese Alternative ausfiel. Deshalb wurden in Deutschland nur 14 % der Kriegsausgaben über Steuern finanziert, wogegen es in Großbritannien 30 % waren.3

Den Ausweg aus dieser Sackgasse boten Kriegsanleihen bei der eigenen Bevölkerung, die nach dem erwarteten Sieg aus den Kriegsentschädigungen der Gegner zurück gezahlt werden sollten. Sie wurden großenteils von kriegsbegeisterten Kleinbürgern gezeichnet, von Geschäftsinhabern, Handwerkern, Lehrern, Professoren und Angestellten, die dafür häufig auf ihre Ersparnisse für die Altersversorgung zurückgriffen. Als der Krieg verloren ging, entledigte sich die Republik von Weimar der Verbindlichkeiten durch eine Hyperinflation, ohne den Anleihegebern wenigstens einen Mindestbetrag zurück zu zahlen. So entwickelten die kleinbürgerlichen Massen einen Hass auf die Republik, der ebenso groß war wie der Hass auf den Versailler Vertrag, der Deutschland immense Reparationszahlungen auferlegte.

3. Die äußeren Kriegsziele

Unabhängig von den innergesellschaftlichen Triebkräften war natürlich die Frage zu beantworten, welche äußeren Kriegsziele Deutschland verfolgen sollte. Eine öffentliche Erörterung darüber untersagte der Kanzler mit Hilfe des Kriegsrechts, um nach außen die Legitimierung als Verteidigungskrieg nicht zu gefährden und Spielraum für die Friedensverhandlungen nach dem erwarteten Sieg zu haben. Gleichzeitig entwarf er ein internes Kriegszielprogramm, das sog. „Septemberprogramm“, das als Orientierung für die Friedensverhandlungen dienen sollte.4 Parallel dazu stellten die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte Kriegsziele auf, die wie in der Innenpolitik ihren unterschiedlichen Interessen entsprachen und sich entsprechend der geographischen Gegebenheiten entweder im Osten oder im Westen des Reichs konzentrierten.

Die Vertreter des Militäradels forderten im Hinblick auf die Landkriegführung im Westen die Annexion militärstrategisch wichtiger Orte (Lüttich in Belgien und Belfort in Frankreich). Ihre hauptsächlichen Kriegsziele aber lagen im Osten und bezogen sich auf die Stärkung Preußens, um dessen Stellung innerhalb Deutschlands auszubauen. Über die Schaffung von Pufferstaaten zur Zurückdrängung Russlands hinaus sollten die baltischen Länder, in denen der deutschstämmige Gutsadel stark war, als selbständige Monarchien durch Personalunion mit Preußen verbunden werden, um so die borussische Macht zu erweitern. Außerdem wurde die Aneignung eines polnischen Grenzstreifens vorgeschlagen, der unter Aussiedlung der ansässigen Bevölkerung als Bollwerk gegen Russland von Kriegsveteranen besiedelt werden sollte.

Ein weltpolitisches Annexionsprogramm

Auf Seiten des bürgerlichen Lagers verlangte die Schwerindustrie die Aneignung des rohstoffreichen Beckens von Longwy/Briey im französischen Lothringen, während ein anderer Flügel der Industrie auf eine Konzeption von „Mitteleuropa“ als deutsch-österreichischem Wirtschafts- und Herrschaftsraum setzte. Jenseits dieser wirtschaftlich bedingten Interessenunterschiede verfolgte das bürgerliche Lager übergreifende, aus der Weltpolitik resultierende Kriegsziele, die von den Nationalliberalen vorgegeben wurden und dort die internen Konflikte aus der Demokratiepolitik zurück treten ließen. „In den Kriegszieldiskussionen kam es zur Annäherung und Zusammenarbeit zwischen der Parteimitte und dem rechten Parteiflügel.“5

Neben einem Kolonialreich in Mittelafrika stand im Zentrum dieser Ziele die Annexion der belgisch-französischen Atlantikküste, deren Häfen als Stützpunkte für den geplanten Entscheidungskampf gegen Großbritannien zur Erlangung einer Weltmachtstellung dienen sollten. Belgien vor allem galt als unverzichtbare Kriegsbeute, und das französische Calais sollte nach den Vorstellungen Stresemanns zu einem „deutschen Gibraltar“ ausgebaut werden, um von hier aus England zu bedrohen.6 Weil der Kanzler als Gegner der Schlachtflottenpolitik die belgischen Häfen nicht als unverrückbares Kriegsziel betrachtete und frühzeitig erkennen ließ, dass er darauf zugunsten eines Ausgleichs mit Großbritannien verzichten würde, attackierten ihn die Nationalliberalen fortlaufend bis zu seinem Sturz.

Die anderen bürgerlichen Parteien (FVP und Zentrum) teilten zunächst die Kriegsziele der Nationalliberalen, ebenso wie sie die Weltpolitik mitgetragen hatten. Erst als sie Mitte 1917 realisierten, dass ein deutscher Sieg immer fraglicher wurde, schwenkten sie auf die Forderung nach einem Verständigungs- bzw. Remisfrieden ohne Annexionen ein und verstärkten in diesem Zusammenhang den Ruf nach Demokratisierung.

Jenseits aller fortbestehenden Differenzen bedeutete der Kriegsbeginn, dass das 1909 aufgelöste Herrschaftsbündnis von Junkertum und Bourgeoisie als Kriegsbündnis wieder auflebte. Im Prinzip ließ das liberale Annexionsprogramm den Militäradel ebenso kalt wie die Weltpolitik insgesamt. Aber immer wenn die Gefahr bestand, dass die Nationalliberalen innenpolitisch auf einen Demokratisierungskurs einschwenken könnten, spielte die Oberste Heeresleitung (OHL) die belgische Frage hoch, um sie erneut an sich zu binden.

Die Sozialdemokratie verfocht offiziell keine Eroberungsziele. „Die verschiedenen Interpellationen und Protesterklärungen der SPD während des Krieges haben die Mehrheitssozialdemokraten in den Ruf grundsätzlicher Annexionsgegner gebracht. Das ist für ihre offiziellen Äußerungen nach außen hin richtig; aber intern hat eine erhebliche Zahl ihrer führenden Köpfe ‚maßvolle Kriegsziele‘ zumindest stillschweigend hingenommen, manche haben sie auch bejaht, um so stärker, je weiter rechts sie standen.“7

Das Septemberprogramm des Reichskanzlers schließlich basierte auf wirtschaftlicher Vorherrschaft und hatte zum Kern „die Mitteleuropa-Idee mit ihrem hegemonialen Anspruch Deutschlands“.8 Frankreich sollte unter seinen bisherigen Großmachtstatus gedrückt und Russland durch den Verlust der Herrschaft über die nichtrussischen Völker von der deutschen Grenze abgedrängt werden. In der Konkretisierung dieser Ziele wurde von Frankreich die Abtretung militärisch wichtiger Gebiete in Grenznähe sowie des Erzbeckens von Briey erwartet. Belgien sollte nach den Vorstellungen Bethmanns als formal selbständiger Staat erhalten bleiben, aber seine Küste militärisch zur Verfügung stellen.

Gegenüber der Annexionswelle, die nach Kriegsbeginn die führenden bürgerlichen Schichten ergriff, verstand Bethmann seine Zusammenstellung von Kriegszielen als „ein Programm der Mäßigung“,9 wobei er regelmäßig betonte, dass selbst die Verwirklichung gemäßigter Kriegsziele einen vollständigen Sieg voraussetzte. Realistisch denkend, glaubte er ohnehin bald nicht mehr an einen Sieg und bemühte sich um einen Verständigungsfrieden mit den Entente-Mächten.

III. Kriegsverlauf und Herrschaftskämpfe

In den ersten beiden Jahren dominierte zunächst das Kriegsgeschehen als solches, doch als der erwartete Sieg ausblieb, schoben sich seit Mitte 1916 die innerpolitischen Widersprüche wieder in den Vordergrund und bestimmten letztendlich die Wendepunkte der Kriegführung.

1. Marne, Verdun, Skagerrak: der Fehlschlag der Kriegspläne

Nachdem der deutsche Meisterplan für einen raschen Sieg über Frankreich (Schlieffenplan) im Herbst 1914 an der Marne fehlgeschlagen war, verharrten die Fronten 1915 in Erstarrung. Im Frühjahr 1916 versuchte die Heeresführung dann, Frankreich in Verdun niederzuwerfen. Der Ort war militärstrategisch ohne großen Wert, aber weil hier die Teilung des Karolingerreichs im Jahr 843 stattgefunden hatte, galt er als Geburtsort Frankreichs von höchster symbolischer Bedeutung und war anzunehmen, dass der Gegner ihn mit allen Mitteln verteidigen würde. Da Frankreich eine geringere Geburtenrate als Deutschland aufwies, basierte der Plan darauf, dass die Abschlachtung einer ganzen Generation junger Männer im Kampf um Verdun das französische Heer ausbluten und Frankreichs Willen zur Fortführung des Kriegs brechen würde.10 Aber als das Frühjahr zu Ende ging und das französische Heer trotz ungeheurer Opfer standgehalten hatte, war nach dem Schlieffenplan auch der Verdun-Plan gescheitert.

Nunmehr kam die Schlachtflotte zum Einsatz. Bis dahin hatte Wilhelm II ihr Auslaufen verweigert, weil ihm das Risiko angesichts der Überlegenheit der Navy zu hoch erschien. Doch angesichts der sich abzeichnenden Niederlage vor Verdun stieg der Druck, ihre Existenzberechtigung nachzuweisen, so dass er schließlich seine Genehmigung gab. Am 31.Mai 1916 trafen die beiden Flotten im Skagerrak aufeinander. Die deutschen Kampfschiffe konnten sich nach der Seeschlacht wieder in ihre Häfen zurück ziehen, aber mehr auch nicht. So wenig wie das deutsche Heer Frankreich zu Lande schlagen konnte, konnte die deutsche Schlachtflotte Großbritannien auf hoher See schlagen.

Damit stand fest, dass der erwartete Sieg nicht zu erringen war. Erich von Falkenhayn, seit September 1914 Chef der Obersten Heeresleitung, hatte bereits nach dem Fehlschlag des Schlieffenplans bezweifelt, dass der Krieg mit militärischen Mitteln zu gewinnen sei und dem Kanzler geraten, einen Ausweg mit politischen Mitteln zu suchen. Nach dem Scheitern vor Verdun glaubte er endgültig nicht mehr an einen Sieg.

Wie der Heeresoberbefehlshaber sah auch der Kanzler keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Deshalb wollte er versuchen, einen Friedensschluss zustande zu bringen, und dazu brauchte er das Einverständnis des Militäradels. Das war zwar in Gestalt Falkenhayns gegeben, doch dieser hatte nach Verdun keinen Rückhalt im eigenen Lager mehr. Um sein geplantes Friedensangebot innenpolitisch abzusichern, sorgte Bethmann daher dafür, dass die im Ostkrieg gegen Russland erfolgreichen und im Volk populären Heerführer Hindenburg und Ludendorff im August 1916 vom Kaiser zur 3.OHL ernannt wurden. „Sowohl für eine Zeit, in der es bis zu Friedenschancen durchzuhalten galt, wie für die Phase von Friedensverhandlungen wollte er Hindenburg als Rückendeckung benutzen. (…) Mit Hindenburg im Rücken wollte er den sonst übermächtigen Annexionisten trotzen, einen bescheidenen Frieden durchsetzen und diesen Sicherheitsfrieden als Erfolg verkaufen.“11

2. Der U-Boot-Krieg als innenpolitisches Kampfmittel

Als Friedensvermittler sollte der us-amerikanische Präsident Wilson dienen. Die USA hatten kein Interesse an dem Sieg einer Seite, da dieser die von ihnen betriebene Festsetzung in Europa behindern würde.12 Sie wollten ihren Einfluss als Schiedsrichter eines Friedensschlusses vergrößern und waren daher aus deutscher Sicht für die Vermittlungsrolle prädestiniert.

Nach vorherigen Sondierungen bei der US-Regierung schlugen Deutschland und Österreich/Ungarn Anfang Dezember 1916 öffentlich Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen vor. Die Kriegsgegner wiesen den Friedensappell unverzüglich zurück, doch erwartungsgemäß reagierte nun der amerikanische Präsident. Er bot sich als Vermittler an und signalisierte gleichzeitig, dass er bereit sei, Druckmittel gegen die (finanziell von den USA abhängigen) Ententemächte anzuwenden, um einen Friedensschluss herbei zu führen.

Angesichts der militärischen Lage wäre ein Frieden zu diesem Zeitpunkt das Beste gewesen, was die Mittelmächte hätten erreichen können. Allerdings verknüpfte Wilson sein Angebot mit der Forderung, dass die neue Friedensordnung den Grundsätzen der Demokratie entsprechen und zwischen demokratisch regierten Ländern geschlossen werden müsse. Damit ging es auf deutscher Seite nicht mehr nur um den Frieden, sondern um die Vormachtstellung des Junkertums, und das bedeutete, dass der Militäradel das Vermittlungsangebot aus der Welt schaffen musste. Zu diesem Zweck bediente er sich der U-Boot-Waffe.

1915/16 waren die deutschen U-Boote bereits zum Einsatz gekommen und hatten den britischen Nachschub aus Übersee mit einigem Erfolg gestört. Doch als Washington nach der Versenkung us-amerikanischer Schiffe im April 1916 ein Ultimatum an Berlin richtete, hatte Bethmann ihren Einsatz trotz der Proteste der Marineführung und der bürgerlichen Parteien, die ihm Feigheit und Englandfreundschaft vorwarfen, eingeschränkt. Da mittlerweile einige Boote mehr in Dienst gestellt worden waren, rechnete die Marineführung nun vor, dass die bei einem unbeschränkten U-Booteinsatz zu erwartenden Versenkungsraten Großbritannien binnen kurzem vom Nachschub abschneiden und in die Knie zwingen würden. Der drohende Kriegseintritt der USA wurde erstens bezweifelt und zweitens als unerheblich abgetan, denn die aus Übersee heran zu bringenden US-Truppen würden an den U-Booten nicht vorbei kommen.13

Obwohl sämtliche Liberalen ebenso wie die Zentrumspartei die Position der Marineleitung unterstützten, blieb Bethmann bei seinem Veto. Er war skeptisch gegenüber den vorgelegten Berechnungen und hielt einen Kriegseintritt der USA aus politischen wie militärischen Gründen für eine Katastrophe, zumal der U-Boot-Einsatz als erstes seinen Friedensplan torpedieren würde.

Ursprünglich war auch die OHL gegen die Fortsetzung der U-Boot-Angriffe gewesen, doch schon die ersten Sondierungen der Regierung gegenüber der US-Regierung hatten sie hellhörig gemacht. Jetzt forderte sie ultimativ die Erteilung eines unbeschränkten Angriffsbefehls, denn ein besseres Mittel, um das us-amerikanische Vermittlungsangebot und damit die Demokratisierungsgefahr zu Fall zu bringen, gab es nicht. Dem ohnmächtigen Kanzler ließ sie durch den Kaiser mitteilen, dass der Einsatz der Unterseeboote keine politische, sondern eine rein militärische Entscheidung sei, und am 1.Februar 1917 wurde der unbeschränkte U-Boot-Krieg aufgenommen. Daraufhin brachen die Vereinigten Staaten die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich ab und erklärten ihm Anfang April den Krieg.14 Die Konservativen konnten beruhigt sein. „Je eindeutiger man vor allem den neuen Kriegsgegner USA dem Lager der Feinde zuordnen konnte, desto sicherer glaubten die Deutschkonservativen, die Gefahr eines durch Wilson vermittelten Verständigungsfriedens mit allen seinen innenpolitischen Konsequenzen bannen zu können.“15

3. Ein Kampf um die Herrschaft

Nach dieser Demonstration der Machtverteilung hätte der Kanzler eigentlich zurücktreten müssen. Doch er nahm die Niederlage in Kauf in der Hoffnung, dass ein Scheitern des U-Bootkriegs die OHL schwächen würde. Er war seit längerem zu der Überzeugung gelangt, dass die Vorherrschaft des Junkertums im Interesse der Zukunft Deutschlands beseitigt werden müsse. Im Juni 1916 hatte er einem Vertrauten gegenüber in aller Offenheit von der „Unmöglichkeit, Ostelbien zu ändern“, gesprochen; es „muss gebrochen werden, untergehen“. Später äußerte er, dass seiner Meinung nach „eine wirklich entschiedene Politik mit einer vernünftigen auswärtigen Linie nur mit der Linken … machbar“ sei, und klagte, „wenn er nur stärker wäre“, würde er an die Spitze der Sozialdemokratie treten und das gleiche Wahlrecht einführen; der geballten konservativen Opposition sei er jedoch nicht gewachsen.16 Bald schien die Entwicklung ihm die Gelegenheit zur Entmachtung der Gutsbesitzer zu geben.

Kaisertum und Demokratie

Während die U-Boote noch zu ihren ersten Einsätzen ausliefen, brach die russische Februarrevolution aus und stürzte die Zarenherrschaft. Zwar führte die an die Macht gelangte Kerenski-Regierung den Krieg fort, aber der jetzt aus Russland ertönende Ruf nach einem Frieden „ohne Annexionen und Kontributionen“ fand in Deutschland großen Widerhall. Der Protest in der Arbeiterschaft gegen die Kriegspolitik der eigenen Partei wuchs an und in der SPD bahnte sich eine Spaltung an, die kurz darauf mit der Gründung der „Unabhängigen“ Sozialdemokratie (USPD) erfolgte.

Angesichts der Gefährdung des Burgfriedens gelang es Bethmann nunmehr, den Kaiser von der Notwendigkeit eines Entgegenkommens gegen die Arbeiterbewegung zu überzeugen, so dass dieser in seiner (vom Kanzler verfassten) Osterbotschaft 1917 zwar nicht die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts ankündigte, wie Bethmann das vorgezogen hätte, aber eine grundlegende Reform versprach. Als Programm von „Kaisertum und Demokratie“ bekannt geworden, bestand das mit der Osterbotschaft verfolgte Konzept des Kanzlers darin, gestützt auf die Monarchie die Demokratisierung des Kaiserreichs sozusagen „von oben“ durchzuführen und auf diese Weise einerseits die Monarchie zu bewahren und gleichzeitig die Macht des Junkertums zu brechen.

Nachdem der Militäradel gerade erst Wilsons Initiative zu Frieden und Demokratie abgewehrt hatte, wurde er jetzt durch die Osterbotschaft herausgefordert. Die Konservativen waren „durch die Initiative Bethmann Hollwegs auf das höchste alarmiert (…) Sie mussten bei der drohenden Demokratisierung ihres letzten Bollwerks Preußen für ihre eigene Machtstellung in Staat und Gesellschaft fürchten“.17 Da sich das Rechtsbündnis nicht offen gegen das Demokratieversprechen wenden konnte, mobilisierte es stattdessen eine Kriegszielbewegung. „In der öffentlichen Diskussion in Deutschland um die Kriegsziele, die seit dem Frühjahr 1917 … heftiger denn je entbrannte, trat immer deutlicher auch die innenpolitische Bedingtheit der deutschen Kriegszielpolitik hervor. Die OHL und die gesamte politische Rechte in Deutschland begründeten die Notwendigkeit ‚positiver‘ Kriegsziele wiederholt mit dem Argument, ein Abschluss des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen würde das monarchische System bedrohen.“18

Unter dem auf ihn ausgeübten Druck musste Bethmann gegenüber der OHL erneut nachgeben, aber bald darauf, im Juli 1917, trieben die Dinge auf eine Entscheidung zu. Mittlerweile hatten sich die anfangs hohen Versenkungszahlen der Unterseeboote schlagartig reduziert, nachdem die Alliierten zur Bildung von Geleitzügen übergegangen waren. Somit war nach dem Schlieffen-Plan und der Niederlage vor Verdun auch der nächste Plan zur Gewinnung des Kriegs fehlgeschlagen. Darüber hinaus begann jetzt ein unaufhörlicher Strom von Truppen und Waffen aus den USA nach Europa zu fließen. Gleichzeitig wusste jedermann, dass nicht der Kanzler, sondern die OHL den gescheiterten U-Bootkrieg zu verantworten hatte.

Mehrheitswechsel im Reichstag

Der Fehlschlag der U-Boote und der an ihren Einsatz geknüpften Hoffnungen bewirkte eine zunehmende Unzufriedenheit in den Massen, zumal die Wirtschaftslage immer elender wurde. Während die inzwischen gegründete USPD sprunghaft anwuchs, verbreitete sich die Forderung nach einem baldigen Friedensschluss auch in den anderen Parteien. „Diese Stimmung erfasste alle Volksschichten, die sich wirtschaftlich und sozial gedrückt fühlten. Sie ging von den sozialdemokratischen zu den christlichen Arbeitern, zu den Bauern und zum Mittelstand. Die Explosion erfolgte beim Zentrum.“19

Wenige Monate zuvor hatte die Führung der Zentrumspartei die Forderung nach dem unbeschränkten U-Boot-Krieg lautstark unterstützt, jetzt realisierte ihr Vorsitzender Matthias Erzberger als erster die neue Lage. Er gewann die Überzeugung, dass Deutschland den Krieg möglichst schnell beenden müsse, bevor es zu spät war. Am 6.Juli hielt er im Hauptausschuss des Reichstags eine große Rede, in der er den Fehlschlag des U-Bootkriegs feststellte und einen Ausgleichsfrieden sobald wie möglich forderte. Denselben Schwenk vollzog die linksliberale FVP, und somit gab es zum ersten Mal im Krieg eine Reichstagsmehrheit für einen Verständigungsfrieden. „Das Zentrum ging zusammen mit den Sozialdemokraten in Opposition gegen die in Deutschland herrschenden Schichten, und als dritte Gruppe schloss sich die Fortschrittspartei, als Vertreterin der Kaufmannschaft und überhaupt des mittleren Bürgertums, der neuen Reichstagsmehrheit an.“

Rosenberg, der dies schreibt, bezeichnet das Ereignis als „eine revolutionäre Tat, und an jenem 6.Juli 1917 ist der Grundstein zur deutschen bürgerlichen Republik gelegt worden.“20 Tatsächlich bildeten SPD, FVP und Zentrum anderthalb Jahre später die sog. Weimarer Koalition, die die Republik aus der Taufe hob. Doch wie „revolutionär“ war die Tat vom 6.Juli in Wirklichkeit, und wie stabil war der damit gelegte „Grundstein“ der Republik? Die Antwort darauf gaben die kommenden Tage.

Die Stellung der Machtfrage

Am Tag nach Erzbergers Auftritt nahm Stresemann als Sprecher der Nationalliberalen zu der neuen Situation Stellung. „In einer sehr geschickten Rede“, die er „im Einverständnis mit Ludendorff“, Hindenburgs Stellvertreter in der OHL, hielt, forderte er „viel entschiedener als das Zentrum und die Sozialdemokraten die Parlamentarisierung Deutschlands. Im Zusammenhang damit richtete er die schärfsten Angriffe gegen die völlig verfehlte Innen- und Außenpolitik Bethmann-Hollwegs.“21 Für die verbal angemahnte Parlamentarisierung rührte die nationalliberale Parteiführung anschließend keine Hand mehr. Umso tatkräftiger ergriff sie die Gelegenheit, den verhassten Reichskanzler los zu werden und das Kriegsbündnis mit der Junkerpartei zu erneuern.

Ob der Kanzler die Schwächung der OHL überschätzte, die Politik der Nationalliberalen falsch beurteilte oder eine Reichstagsmehrheit hinter sich glaubte – jedenfalls ging er nach dem Linienschwenk des Zentrums zum Angriff über und stellte die Machtfrage. Am 10.Juli brachte er den Kaiser dazu, über die Osterbotschaft hinaus einer grundlegenden innen- wie außenpolitischen Wende zuzustimmen. „Bethmanns Kerngedanken der gesamten Kriegszeit wurden zu einem innen- und außenpolitischen Programm gebündelt, das … Deutschland zur parlamentarischen, auf einen Remisfrieden bedachten Monarchie umformen sollte.“22 Ein Kernpunkt war die definitive Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, die Wilhelm II zu einer Entscheidung zwang, deren Alternativen er selber so formulierte: „Nach Ansicht der einen Seite bedeutet Proklamierung des gleichen Wahlrechts (den) Untergang Preußens, nach Ansicht der anderen Seite (die) Unterlassung der Proklamierung wahrscheinlich (den) Verlust des Krieges und damit (den) Untergang Deutschlands und Preußens“.23 Inzwischen von der Unvermeidbarkeit dieses Schritts überzeugt, unterzeichnete er am 11.Juli 1917 eine „Allerhöchste Ordre“, die für die nächsten Landtagswahlen in Preußen die Geltung des Reichstagswahlrechts ankündigte.

Übergang zur Militärherrschaftr

Damit hatte er das politische Todesurteil für seinen Kanzler und sich selber ausgefertigt. Am Tag darauf lud der auf Seiten der OHL stehende Kronprinz ohne jede Legitimation die Vertreter der Reichstagsparteien zu sich, um die Notwendigkeit eines Kanzlerwechsels zu besprechen. Während SPD und FVP auf dem Treffen ein laues Bekenntnis zu Bethmann ablegten, plädierten Konservative und Nationalliberale entschieden für die Absetzung des Kanzlers – und Erzberger als Vertreter des Zentrum schloss sich ihnen an.24 Als somit geklärt war, dass das Parlament folgsam blieb, zwangen Hindenburg und Ludendorff den Kanzler am 13.Juli zum Rücktritt und ließen an seine Stelle sie einen Verwaltungsbeamten namens Michaelis treten, dessen Qualifikation aus dem Versprechen bestand, dass er sein Amt „in steter Übereinstimmung mit der OHL führen“ wolle. Den Kaiser schoben sie auf ein Abstellgleis.

Hätte Bethmanns Vorstoß Erfolg gehabt, wäre die Herrschaft der Gutsbesitzer gebrochen worden. Doch die Nationalliberalen, gefolgt vom Zentrum, verhinderten dies. Klassenpolitisch formuliert entschied sich die große Bourgeoisie, vom Militäradel vor die Wahl zwischen Imperialismus und Demokratie gestellt, für den Imperialismus und das Kriegsbündnis mit dem Junkertum, um ihre weltpolitischen Annexionsziele zu realisieren. Damit war die Machtfrage beantwortet – und die Kriegsniederlage des Kaiserreichs besiegelt.

Bis Kriegsende herrschte der Militäradel in Gestalt der OHL unangefochten. Er musste nicht einmal den Reichstag auseinander jagen, weil dieser nichts tat, um das Militär zu entmachten, sondern weiterhin die beantragten Kriegskredite bewilligte. Also konnte man ihn ruhig Friedensresolutionen verabschieden lassen – sie blieben ebenso folgenlos wie die Ausschusssitzungen, in denen über eine Parlamentarisierung beraten wurde. Obwohl die Parteien, die für eine Demokratisierung eintraten, über eine Mehrheit verfügten, unternahm das Parlament bis zum Schluss nichts, um die politische Entscheidungsgewalt an sich zu ziehen.

 

IV. Eine Republik ohne Hegemonie

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland und damit das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg brachte die Dinge noch einmal in Bewegung. Um die Regierung zu einem baldigen Friedensschluss nicht nur im Osten, sondern auch im Westen zu zwingen, traten Ende Januar 1918 Hunderttausende von Arbeitern in den Streik und verlangten einen annexionslosen Frieden sowie die durchgreifende Demokratisierung Deutschlands.25 Doch indem führende SPD-Mitglieder, u.a. der Parteivorsitzende Ebert, in die Streikleitung eintraten und gleichzeitig Kriegsrecht angewandt wurde, gelang es der Militärführung, die Massenerhebung teils abzuwürgen, teils niederzuschlagen.

Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, den das Reich schließlich im März 1918 der von den Bolschewiki geführten russischen Regierung aufzwang, diente vor allem der dynastischen Stärkung und dem Ausbau der Macht Preußens, aber schuf solche Unruheherde, dass über eine Million deutscher Soldaten im Osten stationiert bleiben mussten, die für die geplante Entscheidungsschlacht im Westen fehlten. Einen Versuch des Außenstaatssekretärs Kühlmann, einen zurückhaltenden, politisch klügeren Frieden zu schließen, wischten die Militärs beiseite. „Die Oberste Heeresleitung setzte ihren Willen auch in Brest-Litowsk durch.“26 Und als Kühlmann im Juni vor dem Reichstag gegen den Protest von Nationalliberalen und Konservativen für eine diplomatische Lösung des Kriegs im Westen plädierte, ließ die OHL ihn ablösen.

Demokratisierung auf Befehl

Ende September 1918 musste die Militärführung anerkennen, dass der Krieg verloren war. Vier Jahre zuvor angetreten, um die alte Ordnung mit Hilfe eines großen Siegs auf den Schlachtfeldern Europas für weitere Jahrzehnte zu sichern, waren die Junker jetzt genötigt zu realisieren, dass die unausweichliche Niederlage ihre Stellung aufs schwerste erschüttern musste. Deshalb war ihnen daran gelegen, die Verantwortung für den Friedensschluss an den Reichstag abzugeben und so viel wie möglich der alten Verhältnisse zu retten.

Anderthalb Jahre zuvor hatte die OHL Wilsons Friedensinitiative und Demokratieforderung mit Hilfe der U-Boote durchkreuzt. Jetzt ergriff sie selber die Initiative zur Demokratisierung, um die Vereinigten Staaten, von denen mildere Friedensbedingungen als von den europäischen Gegnern zu erwarten waren, zum Schiedsrichter des Friedensschlusses zu machen. Sie sorgte dafür, dass der Reichstag mit Zustimmung des Kaisers die notwendigen Beschlüsse fasste und ließ am 28.Oktober 1918 das Gesetz zur Änderung der Bismarckschen Reichsverfassung in Kraft treten. Es übertrug dem Reichstag die fünfzig Jahre lang verweigerte Verantwortlichkeit und wandelte Deutschland in eine konstitutionelle, parlamentarisch fundierte Monarchie um. Gleichzeitig ließ die OHL vermelden, dass nunmehr auch „das gleiche Wahlrecht in Preußen aus militärischen und nationalen Gründen notwendig“ sei.27 Daraufhin fasste der preußische Landtag, der sich bis dahin jedem Reformversuch verweigert hatte, den einstimmigen Beschluss zur Einführung des Reichstagswahlrechts.

Laut Verfassung war Deutschland damit zu einer parlamentarischen Demokratie geworden. „Schon vor der Revolution wurde so das parlamentarisch-parteienstaatliche Regime in Deutschland etabliert; zwar weniger aus eigener politischer Kraft als durch einen Anstoß von außen – die in den Noten des USA-Präsidenten als Bedingung für Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich enthaltene Forderung nach vorheriger ‚Parlamentarisierung‘ der Regierung“.28 Oder um es deutlicher zu sagen: „Die Parlamentarisierung Deutschlands ist nicht vom Reichstag erkämpft, sondern von Ludendorff angeordnet worden.“29

Eine verpuffte Revolution

Kurz darauf warf die Novemberrevolution das alte System binnen weniger Tage über den Haufen. Doch nicht Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die Staatsgewalt, sondern die Sozialdemokratie, die in der entscheidenden Phase des Umsturzes die Neugestaltung der Herrschaftsverhältnisse bestimmte. Dabei war das Entscheidende an ihrer Politik nicht, dass sie eine sozialistische Revolution hintertrieb, was ihr von Linken bis heute vorgehalten wird, sondern vielmehr, dass sie sich der anstehenden bürgerlichen Revolution in den Weg stellte.

1848 war das Bürgertum aus Angst vor dem sozialen Umsturz in die Arme der preußischen Krone und ihrer Truppen geflüchtet. Dasselbe taten jetzt die Sozialdemokraten aus Furcht vor den revolutionären Arbeitermassen, deren Zorn auf die „Arbeiterverräter“ nach jahrelangen Opfern und Entbehrungen grenzenlos war. Anstatt den adeligen Großgrundbesitz zu enteignen und an Landarbeiter und Kleinbauern zu verteilen, um die Agrarbevölkerung für die demokratische Republik zu gewinnen, verbündete sich die SPD-Führung im Ebert-Groener-Pakt mit dem Militäradel, um diesen zur Anerkennung ihrer Regierungsübernahme zu bewegen. Damit rettete sie die eigene Haut – und garantierte die soziale Basis und Fortexistenz des reaktionären Preußentums.

Gleichzeitig verständigte sich die Gewerkschaftsführung im Stinnes-Legien-Abkommen mit der Montanbourgeoisie, um als Tarifpartner anerkannt zu werden, und unterlief so die Verstaatlichung der Schwerindustrie, die nicht nur von der eigenen Partei, sondern sogar von Liberalen gefordert wurde.

Währenddessen führte die revolutionäre Linke, zunächst als Spartakusgruppe und später als KPD, einen aussichtslosen Kampf für eine sofortige sozialistische Revolution. Sie erkannte so wenig wie vorher die Sozialdemokratie der Kaiserzeit, dass auf dem Weg dorthin zunächst die bürgerliche Revolution vollendet werden musste. Ihr Sozialismuskonzept richtete sich gegen die Mehrheit des Volkes und war 1918/19 ebenso zum Scheitern verurteilt war wie in den Jahren davor und danach.

Ohne Führung durch eine Partei mit einem tauglichen politischen Programm erging es der Novemberrevolution von 1918 wie ihrem Vorläufer, der Revolution von 1848: sie überrannte die alten Gewalten, aber zerschlug sie nicht. Die Träger der alten Ordnung inklusive Justiz und Beamtenapparat blieben unbehelligt, und selbst die nach dem Versailler Friedensvertrag auf 100.000 Mann reduzierte Reichswehr verblieb als Staat im Staate in der Hand des Militäradels. Der einzige Erfolg des Novembers über die schon zuvor erfolgte Parlamentarisierung hinaus war die Abschaffung der Monarchie.

Die Konsequenz war, dass sich die 1909 begonnene Krise von Staat und Gesellschaft in der Republik fortsetzte. Nicht die Wahlen richteten Weimar zugrunde – die Hegemonielosigkeit brachte die Wahlergebnisse hervor, welche die Republik parlamentarisch unregierbar machten. Und nicht der schwarze Freitag führte Deutschland in die Katastrophe von 1933 – die Wirtschaftskrise von 1929 beschleunigte nur den Einsturz eines von Beginn an morschen Staatsbaus.

Literatur

John P.Birkelund: Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann; Hamburg 2003

– Joachim Bohlmann: Die deutschkonservative Partei am Ende des Kaiserreichs: Stillstand und Wandel einer untergehenden Organisation; Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften 2012; Internet: http://d-nb.info/1023612798/34

Carl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg): Die Weimarer Republik 1918-1933; Bonn 1987

Gordon A.Craig: Deutsche Geschichte 1866 – 1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches; München 1985

Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18; Düsseldorf 1967

Heiner Karuscheit: Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg; Hamburg 2014

Wolfgang Michalka (Hrsg): Der Erste Weltkrieg. Wirkung-Wahrnehmung-Analyse; im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes; München 1994

Arthur Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik (2 Bücher in 1 Band), hrsg. und eingeleitet von Kurt Kersten; Frankfurt 1983

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949; München 2003

Günter Wollscheid: Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende; Göttingen-Zürich 1995