Doris Pumphrey
„Offene Grenzen“ und linke Wohlfühlrhetorik.
Zu einer notwendigen Debatte über Fluchtursachen und –interessen
„Refugees welcome, wir helfen“ – unter dieser Losung lancierte ausgerechnet die Bild-Zeitung im Spätsommer 2015 eine groß angelegte Werbekampagne für die Aufnahme von Flüchtlingen. Prominente halfen – allen voran Ursula von der Leyen und Sigmar Gabriel. Und die politische Linke hielt die Parole „Flüchtlinge willkommen“ nicht nur ausländerfeindlichen Sprüchen der rechten Demagogen und Neonazis entgegen, sondern machte sie mit der Forderung nach „offenen Grenzen“ gleich zum „linken“ Wohlfühl-Programm. Das Thema „Flüchtlinge“ – bisher im linken Spektrum vor allem emotional behandelt – bedarf dringend einer ehrlichen Diskussion, die alle Perspektiven der Migrations- und Flüchtlingsproblematik berücksichtigt: Die Ursachen, die Interessen des Kapitals, die Folgen für die Herkunftsländer und die zunehmende soziale Unsicherheit im Einwanderungsland.
Der Imperialismus schafft Migranten- und Flüchtlingsströme
Zunächst ist es wichtig, sich in Bezug auf die Fluchtursachen mit der Rolle des Imperialismus auseinanderzusetzen. Zum einen provozieren u.a. Handelsbedingungen der BRD/EU zugunsten deutscher/europäischer Firmen Migrantenströme, denn sie vernichten systematisch die einheimische Produktion in den ehemals kolonial dominierten Ländern und damit für viele die Lebensgrundlagen. Migranten suchen ihr „Glück“ illegal auf gefährlichen Wegen über das Mittelmeer und landen, falls sie die europäischen Küsten lebend erreichen, oft als Tagelöhner in der extremen Ausbeutung landwirtschaftlicher Konzerne. Zum anderen wurde und wird die Migration von Fachpersonal aus ärmeren Ländern durch Regierung und Wirtschaft hierzulande gezielt gefördert. Die Kosten der Ausbildung zahlen die Herkunftsländer. Für diese Immigranten sind die schlechten Arbeitsbedingungen hier meist schon ein Fortschritt im Vergleich zu den Bedingungen in ihren weniger entwickelten Heimatländern. Sie dienen dem Kapital als Lohndrücker. Als Ausländer befinden sie sich zusätzlich noch in einer rechtlich prekären Situation und sind dadurch schwerer für Arbeitskämpfe zu mobilisieren.
Einige, die die Forderung „offene Grenzen“ für besonders „links“ halten, scheinen nicht zu merken, dass dies durchaus dem Arsenal der Imperialisten entspricht. Der Ruf „nach offenen Grenzen ist anschlussfähig an die Praktiken reicher Länder“, schreibt Jörg Goldberg und führt aus, dass die unregulierte Abwanderung aus den ärmeren Ländern nur zum Nutzen der reichen Ländern ist: „Die Abschaffung von Grenzen ist ein neoliberales Projekt“ [1]. Selbst in der DKP meinen einige, der Ruf nach „offenen Grenzen“ oder gar „no border – no nation“ sei besonders revolutionär. Dass die Missachtung von Grenzen und die Zerstörung von Nationen Teil der imperialistischen Kriegsstrategie ist, zeigen geradezu beispielhaft die Subversionen, Interventionen und Aggressionen gegen Jugoslawien, Irak, Libyen und Syrien. Ethnische und religiöse Gruppen wurden und werden gezielt gegeneinander ausgespielt um ihre nationale Einheit und Identität zu zerstören. Damit soll auch die Verteidigung ihres Landes gelähmt und die Durchsetzung imperialistischer Kontrolle erleichtert werden. Die Grundlagen des Völkerrechts, die nationale Souveränität und territoriale Unversehrtheit werden außer Kraft gesetzt.
Das deutsche Kapital ist hocherfreut…
Durch ihre direkte und indirekte Beteiligung an US-Militäraggressionen, durch ihre Waffenlieferungen und Förderung pro-westlicher Oppositionsgruppen, durch Kürzung der Hilfsgelder für die Flüchtlingslager der UNHCR in der Region und durch ihre verheerende Sanktionspolitik gegen Syrien trägt die Bundesrepublik große Verantwortung für Fluchtursachen. Und nun brüstet sie sich mit der großzügigen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Auffällig ist, dass die Bundesregierung vor allem an den Flüchtlingen aus Syrien interessiert ist und diese auch bevorzugt behandelt. Unter ihnen sind besonders viele Fachkräfte, die schon heute bei der Versorgung der Bevölkerung und dem Wiederaufbau des Landes fehlen. „Die Ober- und Mittelschicht verlässt das Land“ schreibt die Syrien-Korrespondentin Karin Leukefeld in ihrem empfehlenswerten Buch und berichtet von Hinweisen auf organisierte Kampagnen, die zur Flucht nach Europa bzw. Deutschland animieren [2]. Das Kapital ist natürlich nicht nur an Fachkräften interessiert. Unter dem Vorwand Deutschland brauche Arbeitskräfte – trotz der rund 5 Millionen fehlenden Vollzeitarbeitsplätze [3] – forderte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, mehr Flüchtlinge aufzunehmen „aus christlicher Nächstenliebe“ [4]. Daimler-Chef Dieter Zetsche ist da etwas direkter: die „hochmotivierten Flüchtlinge“ könnten „uns helfen, unseren Wohlstand zu erhalten beziehungsweise zu vermehren“ [5].
Um wessen Wohlstand es geht, muss hier nicht erklärt werden. Und wie das geht, weiß natürlich ifo-Präsident Hans-Werner Sinn: Um die „Idee der Willkommenskultur“ aufrechtzuerhalten müssten Arbeitsplätze für die Flüchtlinge zur Verfügung stehen, aber dafür müsse man natürlich den Mindestlohn senken [6]. „Verschärftes Lohndumping als menschenfreundliche Tat“ maskiert, fasst Werner Rügemer die Heuchelei des deutschen Kapitals treffend zusammen [7]. Natürlich müsse auch das Rentenalter erhöht werden um „Flüchtlinge zu ernähren“, ergänzt wiederum der ifo-Präsident und denkt vor: „Wir sollten den Flüchtlingsstrom zum Anlass für eine neue Agenda 2010 nehmen“ [8]. Schon gibt es Überlegungen, Hartz IV-Empfänger vorzeitig – mit lebenslanger Kürzung ihrer Altersbezüge – in die Rente zu zwingen [9]. SPD-Arbeitsministerin Nahles, die Unterkünfte der Flüchtlinge durchkämmen ließ, um passende Arbeitskräfte zu selektieren, möchte nun alleinerziehenden Müttern Hartz IV kürzen für die Tage, die Kinder bei ihren Vätern verbringen [10]. Vielleicht kommt der Regierung ja auch noch die Idee, Hartz IV-Empfänger in Massenunterkünfte zu zwingen, da nun auch Flüchtlinge und Migranten auf den Wohnungsmarkt drängen. Die Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt ist gewollt und wird verschärft, sie steigert den Profit, schwächt die Bereitschaft zur Gegenwehr und wirkt wie ein Blitzableiter nach unten. Die Entsolidarisierung „unten“ ist Teil dieser Strategie.
…und die politische Linke übt sich in Wohlfühlrhethorik
Angela Merkels Einladung nach Deutschland zu kommen war unverantwortlich gegenüber den Migranten und Flüchtlingen. Das Ausmaß der über die Medien, Internet und selfies transportierten Willkommenskampagne wirkte wie ein Sog ins Paradies und schürte enorme Illusionen. Viele Zuwanderer werden hier ein böses Erwachen erleben.
Diese Willkommenskampagne war aber auch unverantwortlich gegenüber den Millionen Einheimischen, die soziales Unrecht und tägliche Demütigung ertragen, und verstärkte ihre Verunsicherung und Existenzangst. Schon lange in ihrer wachsenden Wut von links alleingelassen, begannen sie jenen zuzuhören, die von rechts ihren Sorgen anscheinend Aufmerksam schenkten. Statt über die Ursachen von sozialem Unrecht und Flucht aufzuklären, statt aufzuzeigen, dass eine AfD „nur auf die Spitze treibt, was die etablierten Parteien vorbereitet haben“ – wie es Albrecht Müller von den Nachdenkseiten so trefflich formulierte [11] –, um Mitläufer zurückzugewinnen, übten sich Linke aller Schattierungen in der Wohlfühlrhethorik des „Refugee welcome“. Vor allem die „Antifa“, die auf den Demonstrationen gegen die Fluchtursachen nur selten zu sehen ist, bekundet ihre „Solidarität mit den Flüchtlingen“ und beschimpft die Verunsicherten als Rassisten.
Wider die politische Genügsamkeit
Die Reduzierung eines grundsätzlichen und sich zuspitzenden sozialen Problems dieser Gesellschaft auf ein Problem des Rassismus von Individuen zeigt das Ausmaß der linken politischen Genügsamkeit. Die Entwicklung der letzten Monate – der Zulauf zu rechten Demagogen – war absehbar als Merkel ihre Arme weit öffnete, die „Bild“ und das deutsche Kapital die Empfangstrommeln rührten und die politische Linke mehrheitlich Wohlfühlrhethorik mit linker Politik verwechselte. Dass Flüchtlingen und Migranten, die hier ankommen, geholfen werden muss, ist selbstverständlich. Linke Politik aber erfordert mehr.
Internationalistische Solidarität stellt sich gegen imperialistische Aggressionen, Einmischungs- und Destabilisierungspolitik und verteidigt das Völkerrecht auf nationale Souveränität. Sie muss deutlich machen, dass jene, die andere Länder wirtschaftlich ausbeuten, militärisch zerstören und personell ausbluten, die gleichen sind, die zuhause soziales Unrecht verantworten und Entsolidarisierung provozieren. Linke Politik begnügt sich nicht mit reaktiven Parolen und Blockaden gegen rechte Gruppen, sondern muss Massen mobilisieren zum politischen Protest gegen die Herrschenden. Linke Politik kennt keine sektiererische Gesinnungsprüfung, sondern weiß, dass der Protest gegen den eigentlichen und gemeinsamen Gegner und seine Methoden erst erfahren werden muss, um zu einem Lernprozess und dadurch wirkungsmächtig zu werden.
Quellen und Anmerkungen:
- J. Goldberg (2016): Ein neoliberales Projekt, 29.04.16, neues-deutschland.de.
- K. Leukefeld (2016): Flächenbrand – Syrien, Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat“, Köln, hier: S. 45ff.
- L. Niggemeyer (2016): Flüchtlinge als neue Reservearmee auf dem Arbeitsmarkt? Vortrag im Marx-Engels-Zentrum, 02.04.16, mez-berlin.de.
- „WAZ: BDI-Präsident Grillo: Mehr Flüchtlinge aufnehmen“, 12.08.15, presseportal.de.
- „Die meisten Flüchtlinge sind gut ausgebildet und motiviert. Solche Leute suchen wir“, 07.09.15, manager-magazin.de.
- „Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit!“, 14.09.15, wiwo.de.
- W. Rügemer (2015): Hol Dir Deinen Syrer! Flüchtlinge als Spielball, 22.09.15, arbeitsunrecht.de.
- „Rentenalter muss steigen, um Flüchtlinge zu ernähren“, 07.10.15, welt.de.
- „Hartz-IV-Beziehern droht ‚Zwangsverrentung’“, 14.05.16, focus.de.
- „Alleinerziehende werden zur Kasse gebeten“, 25.04.16, tagesspiegel.de.
- A. Müller (2016): Einen schlimmeren Rechtsruck als das rücksichtslose Durchboxen von TTIP, die Agenda 2010 und Kriegseinsätze gibt es nicht, 04.05.16, nachdenkseiten.de.