Hallo Manfred,
manches in Deiner Kritik an meinem Chinaartikel in der AzD 99 hat in mir den Eindruck erweckt, dass Du ihn nicht verstanden hast. Du schreibst etwa: „Schlegel beschreibt drei Phasen der Reform des chinesischen Staatssozialismus nach der Mao-Ära, angefangen mit der experimentellen Öffnung und Modernisierung in der 1. Phase (1978 – 1988) hin zu einem staatskapitalistischen Projekt (2. Phase: 1992 – 2005) der Partei, die keine Klassenpartei mehr sein will, sondern eine harmonische Entwicklung für das ganze Volk anstrebt. Die 3. Phase gilt „etwa ab 2015 mit dem 10-Jahres-Programm ‚Made in China‘ “ (Schlegel), nachdem die nachholende Industrialisierung des Landes abgeschlossen ist, und Kurs auf die Entwicklung zu einem starken sozialistischen Staat mit weltweit führender Ökonomie und geteiltem Wohlstand bis zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik China im Jahr 1949 genommen wird.“ Das mag vielleicht Deine Vorstellung von der chinesischen Entwicklung seit 1978 sein, hat aber nun wirklich nichts mit meinem Artikel zu tun. Ich habe die Etappencharakterisierung Naughtons im Übrigen nur angeführt, weil sie hilft, gewisse Zeitabschnitte durch markante Ereignisse zu unterscheiden. Mir selbst war die Darstellung des kontinuierlichen Wegs Chinas zum Kapitalismus wichtig. Den Unterschied zwischen der Transformation Russlands und Chinas zum Kapitalismus habe ich im Kapitel zur Schocktherapie und zum gradualistischen Weg nochmals aufgegriffen.
Zu einem anderen Punkt. Ich habe in dem Artikel bewusst ein Hauptaugenmerk auf die Entwicklung in China hin zu einer Dominanz der Lohnarbeit gelegt. Zum einen, weil sie ein eindeutiges Merkmal für die Entstehung kapitalistischer Verhältnisse ist, aber auch, weil diese Entwicklung im Vergleich zu anderen Merkmalen relativ unzweifelhaft nachzuweisen ist. Du widmest Dich dem Thema so: „Aus meiner Sicht ist auch die nominell „sozialistische Arbeit in zentral administrierten Staatsbetrieben“ abstrakte Arbeit für Lohn in Geldform als Wert-Bezugsschein für Marktprodukte.“ Bist Du der Meinung, es gäbe in China zwei unterschiedliche Arten von Entlohnungssystemen für Staats- und Privatindustrie, wobei erstere Bezugsscheine darstellen und letztere nicht? Ich frage mich auch, ob Du an jeden Staat mit relevantem Staatsanteil an der Produktion denselben Maßstab wie an China anlegst und ihn als potentiellen Übergangskandidaten zum Sozialismus betrachtest.
Zu einem weiteren Punkt, dem Thema Wanderarbeiter. Du schreibst: “Westliche Studien kommen nicht immer zu validen Ergebnissen. Beispiel: kleinbäuerliche Wanderarbeiter in China, deren Lage sie nach 1992 (Naughton) angeblich zu Verlierern der Reformpolitik machte. Materiell gesehen ist dies falsch. Die „Bauernarbeiter“ („Nongmin Gong“) konnten sich im Verhältnis zu ihrer landwirtschaftlichen Subsistenz-Kleinproduktion vorher deutlich verbessern; die Großeltern führten den Hof weiter und betreuten die Enkel, während die Eltern in die Sonderwirtschaftszonen gingen. Ähnlich wie unsere Migranten können sie überdurchschnittliche Einkünfte im Vergleich zu denen ihrer Heimatregion erzielen und waren in der Krise eben nicht doppelt-freie Lohnarbeiter, sondern hatten finanzielle Rücklagen gebildet. Sie behielten außerdem das Anrecht auf ihre bäuerliche Parzelle.“
Zum einen, Naughton hat nicht die Wanderarbeiter, sondern die Arbeiter in den Staatsbetrieben als die Verlierer seiner zweiten Etappe bezeichnet, weil in dieser Etappe der Schwerpunkt der Regierung auf der Zerschlagung und Umwandlung der Staatsbetriebe lag. Zum anderen, Du beschreibst eine Idylle des Wanderarbeiterlebens, die es nicht gab und gibt. Es ist, wie in dem Artikel beschrieben, die nach wie vor vorhandene Armut der ländlichen Bevölkerung und die sich kontinuierlich erneuernde Überbevölkerung auf dem Land, die Teile der ländlichen Bevölkerung in prekäre Beschäftigungsverhältnisse in den Städten treibt. Die Transfers der Wanderarbeiter in ihre Heimatdörfer dienen nicht nur dazu, die materiellen Verhältnisse ihrer Familien zu verbessern, sondern auch dazu, eine Schulbildung der Kinder und eine Gesundheitsversorgung der Familie zu ermöglichen. Diese Sozialleistungen fielen nach der Agrarreform erst ganz weg und wurden bisher nur rudimentär wieder aufgebaut. Insgesamt ist der chinesische Sozialstaat noch unter dem Standard, den sich die Arbeiterklasse in anderen Ländern erkämpft hat. Insbesondere fallen oft Wanderarbeiter aus Sozialversicherungsleistungen heraus, weil sie keine Arbeitsverträge besitzen. Das ist ebenso wie die Frage, wie es in Wirklichkeit um das Anrecht zur Pacht der bäuerlichen Parzellen und bei der Entwicklung der doppelt-freien Lohnarbeit steht, in meinem Artikel nachzulesen.
Damit will ich es erstmal in meiner Antwort auf Deine Kritik an meinem Artikel belassen.
Gruß,
Martin Schlegel