Wenden wir uns nun wieder der deutschen Innenpolitik zu. Der Krieg stellte die Klassenpolitik der NSDAP erneut auf die Probe. Auf dem Schlachtfeld und in der Organisation der Kriegsproduktion zeigte sich, ob der gerade erst geschmiedete Klassenkompromiß hielt. Der Krieg engte die Spielräume der Sozialpolitik ein, schuf aber auch neue Möglichkeiten, die Entmachtung der alten Elite zu vollenden. Die deutsche Kriegsgesellschaft von 1944/45 war schon deutlich von der nationalsozialistischen Umwälzung gezeichnet.
1. Die Lage des Kapitals
Die „Selbstverantwortung“ der Industrie und die Kriegsgewinne
Der Krieg stellte die Frage nach einer effektiven Organisation der Wirtschaft. Die Wehrmacht forderte fortwährend eine zentralistische und planmäßige Organisation, da sie sich weniger am Profitinteresse der Unternehmer orientierte, sondern sich von wehrwirtschaftlichen Erwägungen leiten ließ. Die Privatwirtschaft trat dagegen mit Unterstützung des Reichswirtschaftsministeriums als Verfechter marktwirtschaftlicher Prinzipien auf. Der Wirtschaftsminister Walter Funk setzte sich im Oktober 1939 durch und führte eine gewisse Dezentralisierung der Kriegswirtschaft ein. [325] Mit der Ernennung Todts 1940, einem Verbindungsmann der Bau- und Rohstoffindustrie, zum Minister für Bewaffnung und Munition setzte sich dieser Trend weiter fort. Er schuf ein neues Preissystem zu Gunsten der Unternehmer und rief Selbstverwaltungsorgane ins Leben, die sich aus Kapital und Militär zusammensetzten. Das Wirtschaftsministerium gab allgemeine Ziele vor, deren Umsetzung aber selbstverantwortlich bei den Betrieben lag. Solange die Betriebe die Vorgaben erfüllten und die Produktion steigerten, mischte sich der Staat nicht weiter in den Wirtschaftsprozeß ein. Todt kam 1942 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Sein Nachfolger Albert Speer, einst Hitlers Stararchitekt, perfektionierte Todts System. „Die praktische wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der nationalsozialistischen Staatsrepräsentanz und der Großindustrie nahm mit Installation des Ministeriums Speer zu.“ [326] Unter „Selbstverantwortung der Industrie“ verstand Speer: Die „Durchführung umfassender industrieller Aufgaben kann nur von Männern gelenkt werden, die aus der Industrie selbst hervorgegangen sind.“ [327] Speer stellte sich selber an die Spitze der Leitung der Industrie und ernannte für alle Produktionsbereiche namhafte Vertreter des Kapitals als Bevollmächtige, die sogar Betriebe stillegen und in die Produktion eingreifen konnten. Auch das RWM schuf neue Gremien, die die Vertreter der Industrie in die Planungen einbezogen. So kam es 1943 zur Gründung des Arbeitskreises für außenwirtschaftliche Fragen. Mitglieder waren so hochrangige Vertreter wie Abs (Deutsche Bank), Karl Rasche (Dresdner Bank), Hugo Stinnes, Max Iglner (IG-Farben), Philipp F. Reemtsma usw. [328]
Neben der stärkeren Zusammenarbeit mit der Industrie ordnete Speer sich die Rüstungsinspektionen und Kommandos der Wehrmacht unter. Damit verdrängte er den einflußreichen Vertreter der Wehrmacht, General Thomas. Die Wirtschaftspolitik Speers zeigte schnell Erfolge. Die Rüstungsfertigung verdreifachte sich von 1942 bis 1944.
Parallel zur stärkeren Einbeziehung der Industriellen in staatliche Aufgaben dehnte der Staat aber sein Eigentum aus. Der Anteil des Staates am gesamten deutschen Aktienkapital stieg auf ca. 25 %. [329] Damit war der nationalsozialistische Staat der größte Aktienbesitzer in Deutschland und knüpfte an die Politik an, die mit dem Aufbau der Hermann-Göring-Werke begonnen wurde. Auf der einen Seite wollte Hitler durch den Aufbau eines starken Staatssektors die Abhängigkeit vom Bürgertum weiter abbauen. Auf der anderen Seite konnten die Nazis ohne die Unterstützung der Industrie den Krieg nicht gewinnen. Eine direkte Konfrontation mußte man um des Sieges Willen vorerst verhindern. Von Hitler gedeckt, sicherte Speer durch seine Politik den Klassenkompromiß mit dem Kapital. Der eigentliche Kitt dieses Kompromisses war der Krieg. Solange das Kapital am bäuerlichen Siedlungskrieg gut verdienen konnte, rührte sich kein Widerstand.
Die Ausbeutung der besetzten Länder bescherte der deutschen Industrie große Gewinne. Viele Konzernübernahmen, die im wirtschaftlichen Wettbewerb gescheitert waren, konnten im Schatten der Panzer der Wehrmacht nun über die Bühne gehen. Die Ausbeutung von Hunderttausenden Zwangsarbeitern stellte eine andere Profitquelle dar. Der Kilgore-Ausschuß des amerikanischen Senats stellte 1945 fest: „Die Umstellung der deutschen Wirtschaft auf die Kriegswirtschaft und auf die fieberhafte Rüstung zum Angriffskrieg erfolgte unter der unmittelbaren Leitung der deutschen Industriellen.“ [330] Nicht zu vergessen ist dabei allerdings, daß Hitler die Kriegsziele und die Außenpolitik bestimmte.
Das Beispiel der Deutschen Bank verdeutlicht die skrupellose Gewinnpolitik der deutschen Konzerne. Im Bericht des Büros der US-Militärregierung hieß es zu den Ermittlungen gegen die Deutsche Bank: „Seit dem Anschluß im Jahre 1938 ging sie weiterhin mit großer Aggressivität daran, ihr Bankherrschaftssystem über die alten Grenzen Deutschlands hinaus auszudehnen.“ Der Bericht nannte als Kriegsbeute die Übernahme der Creditanstalt- Bankverein Wien, also der größten Bank in Österreich, der Böhmischen Unionsbank in der Tschechoslowakei und den „größten Teil des Aktienbesitzes der Societe General de Belgique im Bank- und Industriewesen des Balkan, d. h. einer der größten Holdinggesellschaften Europas (…) Die Auslandserwerbungen der Deutschen Bank wurden so umfangreich, daß sich die Zahl ihrer Zweigstellen und Filialen außerhalb Deutschlands von 1938 bis 1941 versechsfachte.“ [331] Die IG- Farben riß sich die Skodawerke, die gesamte Farbstoffindustrie der Tschechoslowakei unter den Nagel und eignete sich per billigem Aktieneinkauf die gesamte französische Chemieindustrie an. In Polen „arisierte“ Görings „Haupttreuhandstelle Ost“ in Zusammenarbeit mit der Reichsgruppe der Industrie über 130.000 polnische Betriebe. 100.000 schloß man wegen mangelnder Eignung und 30.000 gingen in deutsche Hände über. [332]
Auch die Dokumentensammlung „Anatomie des Krieges“ dokumentiert fundiert den Wettkampf der Konzerne um die Aneignung von Kriegsbeute, sowie den Drang nach Zwangsarbeitern und die direkte Beteiligung an der Judenvernichtung. Die Zwangsarbeiter stellten im Sommer 1944 4 % der in der deutschen Industrie Beschäftigten. [333]
Der Aufstieg der deutschen Industrie in Europa war ein Nebenprodukt des Krieges. Im Westen, wo sich die lukrativsten Übernahmemöglichkeiten fanden, wollte Hitler den Krieg ursprünglich gar nicht führen. Der Spruch „Hinter dem ersten Tank – kommt die Dresdner Bank“ war zwar richtig. Das Kriegsziel, die Errichtung des Bauernreiches im Osten, stand aber grundsätzlich gegen die Interessen der deutschen Industrie. Gerade der Krieg gegen die Sowjetunion zeigte, daß Hitler die Industriellen nur da schalten und walten ließ, wo er es für richtig hielt. Zu großen Konflikten kam es zum Beispiel mit der rheinischen Schwerindustrie, da die gesamte Mineralölwirtschaft der Sowjetunion während des Krieges staatlich blieb. [334] Die meisten Betriebe im Westen erbeuteten weder die Deutsche noch die Dresdner Bank, sondern die mehrheitlich staatlichen Hermann-Göring-Werke.
Der Kampf der SS gegen den wachsenden Einfluß des Kapitals
Die SS betrachtete die „Selbstverantwortung der Industrie“ sehr kritisch. Der Einfluß der Industrie gefährdete ihrer Meinung nach den weiteren Kampf für den kleinbürgerlich-bäuerlichen Massenstaat. Otto Ohlendorf, Wirtschaftsideologe der SS, war der Vorreiter einer Politik gegen Speer und das Kapital.
Schon am 26. August 1942 wetterte Ohlendorf in einem Bericht über „die Verflechtung staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen durch die gleichen Personen“ und griff die „Selbstverantwortung der Industrie“ scharf an. [335] “ Man muß sich darüber im klaren sein, daß es sich um eine Kriegseinrichtung handelt, die nicht in den normalen Zeiten übernommen werden darf, wenn wir an der Trennung zwischen Staat und Wirtschaft festhalten und die Hoheit des Staates auch weiterhin klar herausgestellt sehen wollen.“ [336], legte er dar. Seine Kritik richtete sich außerdem gegen die Verdrängung der Kleinunternehmer und die Schwächung der Bauern durch die Kriegsproduktion. [337] Der Ohlendorf unterstehende Sicherheitsdienst verfaßte wiederholt kritische Berichte über Rüstungsindustrielle. Strafandrohung der SS und Verhaftungen von Industriellen waren die Folge. Das eigenmächtige Handeln der SS ging so weit, daß Hitler selbst eingreifen mußte. Die „Verordnung zum Schutz der Rüstungswirtschaft vom 21. März 1942“ legte fest, daß Strafverfolgungen wegen Schädigung der Rüstungsindustrie nur auf Speers Antrag stattfinden durften. [338] Speer konnte durch Hitlers Rückendeckung die Freilassung mehrerer Verhafteter, wie z. B. des Generaldirektors der Demag, Reuter, durchsetzen.
Die Angriffe der SS liefen bald ins Leere, da auch Himmler die Notwendigkeit der Bündnispolitik erkannte. Nach dem Druck auf Ohlendorf sagte er intern, daß er Ohlendorfs Absichten nicht billige, denn „während der Kriegszeit ist eine grundsätzliche Änderung unserer total kapitalistischen Wirtschaft nicht möglich“. [339] Ein SS- Wirtschaftsimperium aufzubauen, wurde vom „Führer der SS“ aber voll unterstützt. Laut Albert Speer steckte die Absicht der SS dahinter, ein eigenes finanzielles Fundament der SS zu schaffen, das sie sowohl vom Staat als auch von der verhaßten Schwerindustrie unabhängig machen sollte. Wie bei dem Aufbau des parallelen Staatsapparates schaffte man auch hier einen nationalsozialistischen Keim neben der traditionell kapitalistischen Industrie. Natürlich hatten auch die SS- Betriebe kapitalistischen Charakter oder basierten sogar auf Sklavenarbeit. Doch sie unterstanden der nationalsozialistischen Eliteorganisation in Abgrenzung zu Krupp und anderen klassischen Vertretern der deutschen Industrie.
Ein Beispiel aus Polen: In der Besprechung des Generalgouverneurs Frank und SS-Gruppenführers Koppe vom 3. Juli 1944 sprachen sie sich für den Aufbau von SS-Konzernen aus. Da es die „Konzerne und Trusts“ nicht gern sehe würden, wenn in Polen zusätzlich Eisen gefördert würde, schlug Koppe vor, „einige Stahlwerke aufzuziehen, die mit diesem Interessenklüngel nichts zu tun haben“. [340] In Ungarn übernahm die SS mit dem Weiss-Konzern gleich das wichtigste Rüstungsunternehmen. Auch in Deutschland wuchs das SS-Imperium sprunghaft an. Die SS schuf z. B. den Riesenkonzern „Deutsche Wirtschaftsbetriebe GmbH“, eine Holdinggesellschaft von 4 SS-Unternehmen. Schon bei Kriegsausbruch verfügte die SS über die „Erd- und Steinwerke GmbH“, die „Deutsche Ausrüstungswerke GmbH“ und andere große Betriebe. Besonders auf dem Sektor der nicht alkoholischen Getränkeindustrie expandierte die SS. Pohl, der stellvertretende Chef des WVHA, kontrollierte 1944 75 % des deutschen Mineralwassermarktes. [341] Die Geschwindigkeit des Ausbaus eines eigenen Sektors war Folge der Verfügungsgewalt der SS über die Zwangsarbeiter in den Konzentrationslagern. Sie stellten einen großen Teil der Belegschaft in den SS-Betrieben.
2. Bis zur letzten Kugel – Die Arbeiterklasse
Der Nationalsozialismus gewann die große Mehrheit der Arbeiterklasse bis 1936. Wie gelang es aber, die sozial zufriedengestellten Arbeiter in einen Krieg zu führen, der nicht für ihre Interessen geführt wurde, und soziale Unruhen an der „Heimatfront“ zu verhindern?
Lohn- und Sozialpolitik
Trotz der geringen ökonomischen Spielräume im Krieg versuchte die NSDAP, die Sozialpolitik gegenüber der Arbeiterklasse aufrecht zu erhalten. Ohne Ruhe in den Betrieben der Rüstungsindustrie konnte man den Krieg nicht gewinnen. Um durch die Einberufung zur Front für die Familien größere soziale Nachteile zu verhindern, zahlte der Staat Unterhalt an die Ehefrauen der Soldaten während des Krieges. In den ersten Kriegsjahren schränkte die Regierung die Konsumgüterindustrie nicht ein, obwohl es den Kriegserfordernissen entsprochen hätte. [342] „Kanonen und Butter“ war die reale Politik in dieser Zeit.
Die große Angst der Nazis vor der Konfrontation mit der Arbeiterklasse zeigte sich vor allem an der Kriegswirtschaftsverordnung sehr deutlich. Diese Verordnung vom September 1939 verhängte eine Urlaubssperre, strich Zuschläge für Überstunden und hob die Arbeitszeitbegrenzung auf. Große Unzufriedenheit in den Betrieben war die Folge. Heß schrieb daraufhin an Göring: „der Führer und wir alle mit ihm haben nicht zwei Jahrzehnte lang um das Vertrauen der Arbeiterklasse gerungen, damit dieses dann im kritischen Augenblick aus mehr oder weniger theoretischen Gedankengängen heraus aufs Spiel gesetzt wird.“ [343] Es folgte die stufenweise Aufhebung der Verordnung. Am 17.11. fiel die Urlaubssperre, ab dem 12.12 wurden Zuschläge wieder bezahlt, und die Arbeitszeit begrenzte man auf maximal 10 Stunden. [344]
Auch die Lohnpolitik blieb konstant. Die Verstärkung des Leistungslohns führte in einigen Teilen der Wirtschaft sogar zu weiteren Lohnsteigerungen. Am 1. April 1939 trat die Verordnung für den Vierjahresplan zur Erhöhung der Förderleistung und des Leistungslohnes im Bergbau in Kraft. Die Schicht wurde um 45 Minuten länger, doch die Leistungsprämien steigerten die Hauerlöhne um 15-16 %. [345]
Erst gegen Ende des Krieges änderte sich diese Politik der Zugeständnisse. Die Verordnung vom 31. August 1944 führte die 60-Stundenwoche ein [346], und auch der Lohnpolitik waren jetzt sehr enge Grenzen gesetzt. Hinzu kam die steigende Konkurrenz, da immer mehr Fremd- und Zwangsarbeiter ins Reich geholt wurden. Hier versuchten die Nazis Abhilfe zu schaffen, indem sie die deutschen Arbeiter auf Kosten der Fremdarbeiter privilegierten. „Hinter der Verstimmung deutscher Bergleute stand die Tatsache, daß es schwieriger geworden war, zusammen mit den begreiflicherweise niedrigere Arbeitsleistungen vollbringenden Ostarbeitern einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen. (…) In der Folge wurden die Lohnraten im September 1942 zugunsten der deutschen Arbeiter und auf Kosten der Fremdarbeiter geändert. (…) Auf Grund dieser Maßnahme stiegen die Hauerdurchschnittslöhne von 8,64 RM auf 9,40 RM.“ [347].
Neben den Löhnen war im Krieg die Versorgungslage wichtig. Die Hungersnot 1917/18 führte im 1. Weltkrieg zu Unruhen und war ein wesentlicher Grund für den revolutionären Aufstand und die Streiks in Deutschland. Den Nationalsozialisten war klar, daß die Sicherstellung der Versorgungslage eine wichtige Voraussetzung für den Sieg war. So mußte selbst die SED-Geschichtsschreibung zubilligen, daß es gelang „eine relativ stabile Versorgung mit allem Lebensnotwendigen zu organisieren, so daß die Befürchtung, es werde durch den Krieg eine Hungersnot wie im ersten Weltkrieg ausbrechen, sich nicht bewahrheitete.“ [348] Die Lebensmittel wurden knapper, aber den großen Hunger gab es nicht. So betrug der Kalorienverbrauch 1939/40 für den Normalverbraucher 20 % weniger als im Frieden. [349] Im März 1942 kam es zu Rationskürzungen, und der SD berichtete, dies habe „auf einen großen Teil der Bevölkerung geradezu ‘niederschmetternd’ gewirkt, und zwar in einem Ausmaße, wie kaum ein anderes Ereignis während des Krieges“, „insbesondere in Arbeiterkreisen“. [350] Für den „Endsieg“ war man aber bereit, den Gürtel enger zu schnallen. Auch als man im Winter 43/44 mit 45,1 % weniger Kalorien als im Frieden auskommen mußte, akzeptierten es die Deutschen. [351]
Als Deutschland 1939 den Krieg begann, gab es keine Kriegsbegeisterung wie im 1. Weltkrieg. Selbst die Nazi- Wochenschau konnte nicht viele Bilder von jubelnden Massen zeigen. Viele fürchteten einen vernichtenden Gegenschlag der Westmächte. Mit den militärischen Erfolgen veränderte sich das Bild. Ein Siegesrausch brach in allen Klassen und Schichten aus. So berichtete der SD nach den Siegen im Westen: „‘im Banne der militärischen Erfolge’ habe sich ‘eine bisher noch nicht erreichte innere Geschlossenheit’ in der Bevölkerung gebildet, während der ‘Tätigkeit der Gegnergruppen (…) überall der aufnahmefähige Boden entzogen’ sei.“ [352] In den Betrieben sah es da nicht anders aus. In einem SD-Bericht vom 22.4.1941 hieß es: „in Bezug auf die Gesamtzahl der Beschäftigten“ sei „auch kein Grund vorhanden (…), von einer schlechten Stimmung oder Haltung der Arbeiterschaft zu sprechen.“ [353] Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Kriegsniederlage änderte sich diese Situation nicht. Auch jetzt verteidigten die Arbeiter den Nationalsozialismus und waren bereit, große Opfer an der Front und im Reich durch die alliierten Bombenangriffe auf sich zu nehmen. Noch am 21.2.1945 vermerkten Meinungsforscher im Reichspropagandaministerium: „1. Das Bürgertum ist in tiefgreifender Lethargie und hält den Krieg für verloren, ebenso die Bauernschaft besonders in den katholischen Gebieten. 2. Die Arbeiterklasse erfüllt vorbildlich ihre Pflicht, ist gegenüber kommunistischer Zersetzung immun“. [354]
Durchhalten für den Sieg
In der Kriegspropaganda knüpfte die NSDAP an den sozialen Interessen der Arbeiter an. So verkündete Goebbels, daß dieser Krieg nicht „für Thron und Altar“ geführt werde, sondern „für Getreide und Brot, für einen vollgedeckten Frühstückstisch -, Mittags- und Abendtisch, ein Krieg für die Erringung der materiellen Voraussetzung zur Lösung der sozialen Frage, der Frage des Wohnungs- und Straßenbaus (…), des Baus von Volkswagen und Traktoren, von Kinos und Theatern bis ins letzte Dorf hinein, ein Krieg um Rohstoffe, um Gummi, um Eisen und Erze.“ [355] Durch diese „Erringung der materiellen Voraussetzung zur Lösung der sozialen Frage“ auf Kosten der unterdrückten und ausgebeuteten Völker wollten die Nazis die Arbeiter fest in das „tausendjährige Reich“ einbinden. Dem deutschen Arbeiter wies die Nachkriegsplanung eine Vorreiterstellung in Europa zu und sah einen wesentlichen Ausbau des Sozialstaates vor. Kehrl malte die Nachkriegszeit wie folgt aus: „Im Großraum können deutsche Arbeiter in der Zukunft nur für hochwertige und bestbezahlte Arbeit, die den höchsten Lebensstandard ermöglicht, angesetzt werden. Produkte, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, werden wir (…) den Randvölkern zur Produktion überlassen und überlassen müssen. Wir werden uns für den deutschen Arbeiter bei der industriellen Produktion Europas die Rosinen heraus picken.“ [356] Die Nachkriegsplanungen der DAF enthielten in diesem Kontext das Recht auf Arbeit, den 8- Stundentag, Vereinheitlichung der Sozialversicherungen und große Wohnungsbauprojekte. Den Unternehmern paßten diese Planungen gar nicht. In einer Denkschrift der Reichsgruppe Industrie vom 1.8.1940 wandten sie sich gegen die DAF und sprachen sich gegen die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten und gegen den 8-Stundentag aus. [357]
Trotz dieser Versprechen an die Arbeiterklasse sollte man nicht vergessen, daß der Krieg in erster Linie als Siedlungskrieg für ein Bauernreich geführt wurde. Auch wenn der einzelne Arbeiter an diesem Raubkrieg nach dem Sieg profitieren sollte, war es ein Krieg für die Überwindung der modernen Industriegesellschaft. Ein Sieg hätte das Rad der Geschichte auch für die Arbeiterklasse zurückgedreht und ihre Bedeutung als Klasse in der Nachkriegsgesellschaft bedeutend vermindert. Schon der Krieg veränderte das alte Arbeitermilieu deutlich. Ein großer Teil der Arbeiter kämpfte als Soldaten in der Wehrmacht. Nur Arbeiter wichtiger Rüstungsbetriebe kamen nicht an die Front. Die Armee war eine Männergemeinschaft aus allen Klassen der Bevölkerung und unterschied sich damit grundlegend von dem sozialen Umfeld in den Betrieben. Ein Arbeiter, der zum Beispiel 1939 eingezogen wurde und bis 1945 in der Armee blieb, veränderte sich. Er war in erster Linie Soldat und nur in zweiter Linie noch Arbeiter. Die Arbeiter kämpften in der Armee aufopferungsvoll für den Nationalsozialismus. Die alte Frontsoldatenideologie, in der der Bürgersohn neben dem Arbeiter für das Vaterland im Schützengraben lag, setzte sich wieder durch.
In den Betrieben boten sich viele Aufstiegsmöglichkeiten für die verbliebenen Facharbeiter. Hier ein Beispiel aus dem Ruhrgebiet: „Die Produktionssteigerungen bewirkten zugleich eine erhebliche Veränderung der Arbeitsqualifikationen. Während des Krieges verwandelten sich Zehntausende deutsche Hauer von Produktionsarbeitern zu Aufsehern über die Fremdarbeiter, die zur Zwangsarbeit in die Bergwerke abkommandiert wurden.“ [358] Auch in anderen Bereichen der Wirtschaft übernahmen Arbeiter die Rolle des Vorgesetzten.
Auch die Bombenangriffe der Alliierten, die die Arbeiterviertel und die Fabriken am stärksten trafen, veränderten viele Arbeitsverhältnisse. Die Fabriken verwandelten sich für viele zum letzten Zufluchtsort. Die Regelung, die Lebensmittelkarten über den Betrieb auszugeben, verstärkte die Bindung der Arbeiter an die Betriebe.
Die Bombenangriffe der Alliierten richteten sich im Laufe des Krieges gezielt gegen die deutsche Bevölkerung. Durch die Zerstörung ganzer Wohngebiete glaubten vor allem die Briten, dem Widerstand gegen Hitler Auftrieb zu geben. Die Bombardements bewirkten aber genau das Gegenteil. Die Geschlossenheit der „Volksgemeinschaft“ verstärkte sich wie in keiner anderen Situation. Statt wie im 1. Weltkrieg die Gewehre umzudrehen und die eigene Regierung zu stürzten, kämpfte die große Mehrheit der Arbeiter bis zum 8. Mai weiter. Die positiven sozialen Erfahrungen der Arbeiterklasse mit dem Nationalsozialismus spielten dabei die entscheidende Rolle. Nach dem kläglichen Scheitern der Weimarer Republik bot der Nationalsozialismus mehr als jede Regierung in Deutschland zuvor. Dafür nahmen sie die Zerschlagung der marxistischen Bewegung hin und hielten auch im Krieg zu den Nazis.
Viele sahen keine konkrete Alternative zum Durchhalten. Den deutschen Kommunismus kannten gerade die jungen Arbeiter hauptsächlich aus der Nazipropaganda. Weder die SPD, die für die marode Weimarer Republik stand, noch die KPD, die seit ihrer Gründung von einer Niederlage in die andere geschlittert war, kannten sie aus persönlicher Erfahrung. Als Soldaten in der Sowjetunion, die sich gerade erst im Übergang zur Industriegesellschaft befand, fühlten sich viele durch die Rückständigkeit auf dem Land in ihren Rassendogmen bestätigt. Stalins Bekenntnis, Deutschland und das deutsche Volk nicht zerstören zu wollen, sondern nur den Faschismus zu zerschlagen, glaubten die Deutschen nicht. Zu tief saß das Mißtrauen. Auch die Versuche, durch das „Nationalkommitee Freies Deutschland“, in dem auch Generalfeldmarschall Paulus mitarbeitete, „nationalen“ Widerstand gegen Hitler zu entfachen, scheiterten.
Auf der anderen Seite standen die Westalliierten. Für die Arbeiter stand der angelsächsische Kapitalismus für die Herrschaft der „Plutokratie“, und es war in der Tat ein Kapitalismus ohne Sozialstaat. Mit der Maxime der bedingungslosen Kapitulation erweiterten die Westmächte den Spielraum für den Widerstand nicht gerade. Verhandlungen mit einer möglichen Widerstandsregierung wollten weder England noch die USA, wie ihr Verhältnis zum 20. Juli und zum NKFD zeigte. Solche Verhandlungen hätten die Möglichkeit der langfristigen Besetzung verbauen können. Mit dem Morgenthau-Plan schütteten sie reichlich Wasser auf Goebbels Propagandamühlen. Morgenthaus Plan, Deutschland in zersplitterte Agrarstaaten zu verwandeln, unterschrieb der amerikanische Präsident Roosevelt, um Deutschland endgültig als Weltmarktkonkurrenten für das US- Kapital zu beseitigen. Auch Churchill sprach davon, Deutschland in einen „Kartoffelacker“ zu verwandeln. Die Vernichtung der deutschen Industrie hätte auch das Ende des Proletariats bedeutet und es in sozial schlechter gestellte Bauern verwandelt. Erst im September 1944 zog Roosevelt seine Unterschrift unter den Morgenthau-Plan zurück, da die US-Regierung neue Kriegsziele hatte.
Die Kriegszielpolitik der Westalliierten ergänzte die geschickte Sozial- und Lohnpolitik der Nazis. An den mutigen Aktionen des kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstandes beteiligte sich nur eine kleine Minderheit. Beide Parteien verloren die meisten ihrer ehemaligen Anhänger, die in der Praxis ganz andere Erfahrungen machten, als die Exilpolitiker mit ihrer These der „Diktatur des Finanzkapitals“ verkündeten. Statt einer permanenten „Verschärfung der Ausbeutung“ erlebten sie einen Ausbau der Lohn- und Sozialpolitik und die Überwindung der Arbeitslosigkeit.
3. „Auskämmung“ und Siedlung: Kleinbürgertum und Bauernschaft
Unter dem Hammer des Krieges
Das städtische Kleinbürgertum, einst wichtige Stütze der NSDAP, war die Klasse, die am meisten unter den Folgen des Krieges litt. Wenn der Kleinhändler es nicht geschafft hatte, in Partei oder Wehrmacht Karriere zu machen, verschlechterte sich seine soziale Lage enorm. Durch die Notwendigkeit der Zentralisierung der Kriegsproduktion und dem Zufriedenstellen der Arbeiterklasse gerieten viele Betriebe in die Mühlen der Kriegsproduktion. Unter dem Stichwort „Auskämmung“, die von 1939 bis 1943 andauerte, schloß die Regierung Kleinbetriebe, die uneffizient arbeiteten oder für die Kriegsproduktion unwichtig waren. Die Zahl der Handwerksbetriebe verringerte sich so allein in der zweiten Jahreshälfte 1939 um 200.000. [359] Im Winter 1942/43 folgte die Auflösung der Handwerkskammern. Folgenschwer war auch der Erlaß vom 30. Januar 1943 zur Schließung aller nicht kriegswichtigen Betriebe. Obwohl die Nazis diese Entscheidung nicht konsequent umsetzten, traf sie den Mittelstand hart.
Um die Lage des Mittelstandes war es so schlecht bestellt, daß Goebbels in seinem berühmten Aufruf zum „totalen Krieg“ auf die Nachkriegszeit vertröstete. „Nach dem Krieg wird der Mittelstand sofort wieder in größtem Umfang wirtschaftlich und sozial wiederhergestellt.“ [360] Die Drohung der „Proletarisierung“ war für das Kleingewerbe während des 2. Weltkrieges wieder zurückgekehrt. [361] Man sollte trotz dieser Entwicklung nicht vergessen, daß die Nationalsozialisten auch den Mittelstand über die Siedlung retten wollten. Seine vorübergehende Verminderung war ein Opfer, das für die Kriegsproduktion gebracht werden mußte. Schon während des Krieges trafen die SS und die Handwerkskammern Vereinbarungen für die Siedlung im Osten. Der Siedlungswille des Handwerks und der Kleinunternehmer ist bisher noch kaum erforscht. [362]
Die stabile Landwirtschaft
Für die Bauernschaft sah die Lage während der Kriegsjahre besser aus. Allein aus ernährungspolitischen Gründen konnten die Nazis sich auf diesem Gebiet keine „Auskämmungen“ leisten. Über den Apparat des Reichsnährstandes gelang es, die Versorgung weitgehend sicherzustellen. Die Indexziffern trugen für 1944 im Vergleich zur Vorkriegszeit bei Getreide 78 %, bei Kartoffeln 80 % und bei Zuckerrüben 100 %. [363] Im Vergleich zur Lage im 1. Weltkrieg waren das beachtliche Resultate. Den Arbeitskräftemangel versuchte man durch massiven Einsatz von Zwangsarbeitern und Arbeitsdienstmaiden zu überwinden.
Die Kriegssituation verstärkte die Rückständigkeit des Landes noch zusätzlich. Von der „Aufrüstung des Dorfes“ war nicht mehr viel übrig geblieben. Agrarexperte Wörmann stellte im Mai 1944 sogar einen erheblichen Mangel an Sensen, Spaten, Gabeln und Hacken fest. [364] Die Existenz des bäuerlichen Kleinbetriebes stellte die nationalsozialistische Kriegspolitik aber zu keinem Zeitpunkt in Frage.
Der Siedlungswille der deutschen Bauernschaft gehört merkwürdigerweise zu den unerforschten Gebieten der NS- Geschichte. So ist es nur möglich, einige Anhaltspunkt zu nennen. Die explosionsartige Aufblähung der Waffen- SS zeigte deutlich, daß es Tausende Bauern gab, die durch die Blut- und Bodenideologie und die Siedlungsversprechen angezogen wurden. Da man die eigentliche Siedlung auf die Nachkriegszeit verschob, ist der Siedlungswille schwer einzuschätzen. Heinz Höhne sprach von 200.000 Bauern und Rolf-Dieter Müller von über 21.000 Familien, die man in Polen und im Baltikum schon während des Krieges ansiedelte. In den verschiedenen Gebieten Deutschlands muß die Lage auch unterschiedlich gewesen sein. So berichtete das Landgericht in Köln Ende April 1941 von „spürbarer Unruhe“ in der bäuerlichen Bevölkerung durch „Gerüchte über bevorstehende Um- und Aussiedlung größeren Stils“. „Viele Bauern bekundeten ihre Entschlossenheit mit Äußerungen wie: „Mir blieven hemm!“. [365] Im Rheinland war auch schon der Widerstand gegen das Reichserbhofgesetz am größten. Es ist auch anzunehmen, daß viele Landarbeiter ihre Zukunft eher in einem gut bezahlten Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie sahen als in einem ungewissen Leben in der Ukraine.
Ein großer Siedlungswille war eindeutig in der Junkerschaft und bei vielen Generälen der Wehrmacht vorhanden. Sie strebten nach einem großen Rittergut mit slawischen Zwangsarbeitern. „Einige von Hitlers Generälen zählten zu den eifrigsten Bewerbern.“ [366] Das Gerangel um die Rittergüter steigerte sich während des Krieges so, daß es ein „Führerbefehl“ beendete und auf den „Endsieg“ verschob. In den unteren Teilen der Wehrmacht standen die Siedlungswünsche hingegen nicht überall im Vordergrund. „Den alten Mythos des „Wehrbauern“ sah die Wehrmacht also offenbar als nicht so werbewirksam an wie die SS. Sie setzte statt dessen auf jene Lebens- und Berufschancen, die wohl der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, damit auch den wehrpflichtigen Soldaten erstrebenswert galten. [367]
Die Tatsache, daß die Schaffung eines kleinbürgerlich-bäuerlichen Massenstaats den Kern der nationalsozialistischen Programmatik darstellte, wird durch die Ungewißheit über den Siedlungswillen keinesfalls in Frage gestellt. Die offene Frage ist auf Grund der historischen Tatsachen nicht, ob Hitler und die SS im Osten einen Siedlungskriegs führten, sondern nur, wie groß die gesellschaftliche Basis dafür war. Um einen Vernichtungs- und Siedlungskrieg gegen die slawische Bevölkerung zu führen, reichten einige hunderttausend fanatische Waffen- SS-Männer und eine Handvoll nach Rittergütern strebende Generäle damals völlig aus.
4. Der 20. Juli – Der Aufstand der Junker
Das Programm
Der junkerliche und militärische Widerstand um Beck blieb lange isoliert. Vor dem Hintergrund der Kriegsniederlage sammelte sich um Goerdeler eine größere Gruppe, die das Attentat auf Hitler am 20.Juli 1944 verübte. Die Bedrohung der Junkergüter durch die Rote Armee im Osten bildete den außenpolitischen Auslöser. Die Rebellion von Teilen des Militärs hatte aber hauptsächlich innenpolitische Gründe. Hinter dem Putschversuch des 20.Juli standen Teile der alten preußischen Elite, vor allem die Junker, um ihre politische Entmachtung wieder rückgängig zu machen. Der 20.Juli hatte eine aristokratische Basis und ein ebensolches Programm.
Die Gruppe des 20.Juli bestand folglich aus Junkern und Offizieren aus alten Adelsfamilien. Nur um einige Namen zu nennen: Henning von Treschkow (Gutsbesitzer in der Neumark), Erwin von Witzleben (stammte aus einer alten thüringischen Adelsfamilie), Graf von Moltke (schlesischer Junker), Rudolf Christoph (Freiherr von Gersdorf), Fritz Dietlof (Graf von Schulenberg). [368] Selbst der „Kreisauer Kreis“, in dem sich auch rechte Sozialdemokraten und Christen sammelten, benannte sich nach dem Gut des schlesischen Grafen von Moltke.
Aus Angst, als privilegierte Klasse zerschlagen zu werden, erhoben die Attentäter ihr Programm, dessen Kern der Ausschluß der Massen aus der Politik war. Der Begriff der „Entmassung der Gesellschaft“ zog sich durch die verschiedenen Denkschriften. Der Graf von Schulenberg sprach noch 1941 „vom ‘Daseinsrecht’ des Adels als staatstragende Schicht und blieb Anhänger historisch gewachsener Eliten, auch für den Fall, daß die durch einen neuen Gutsbesitz künstlich geschaffen wurden“. [369] Weil Hitler den Adel nicht erhalten, sondern verdrängen wollte, hielten die Männer vom 20. Juli ihn für einen Bolschewisten und zogen Parallelen zu Stalins Offizierssäuberungen. Mitverschwörer Hassell befürchtete, daß der ‘Sozialismus in Hitlers Form’ unvermeidlich auf dem Weg innerer Bolschewisierung das Zerbrechen der Oberschichten zum Ziel habe. [370] In Liediegs Denkschrift, typisch für das Denken des Widerstandes, sah er Hitler als „Satrap Stalins“, der sich als dessen „russischer Statthalter in Sowjetdeutschland“ entpuppen würde. Die NSDAP befinde sich auf dem Weg zu einer „zweiten Revolution“, und ihr Apparat bilde nur „die Kulisse zur Zersetzung der alten Volksordnung“. [371] Wie sehr die alte Elite ihre Entmachtung kränkte, zeigten folgende Passage aus der Denkschrift von Beck und Goerdeler: „Notwendig erscheint, daß die Achselstücke in der traditionellen Form und Farbe wieder ausschließlich Offizieren vorbehalten werden (…) man wird einen Korpsgeist in der Armee im Sinne der Hochachtung bewährter Tradition nur erzielen, wenn man Portepee und Achselstücke wieder zur einer selteneren Erscheinung macht.“ [372]
Vor dem Hintergrund der Entmachtung der Junker forderten Beck und Goerdeler den Erhalt der Wehrmacht und die Auflösung der bewaffneten Verbände der NSDAP. Die SS sollte unter das Kommando der Wehrmacht gestellt werden. [373] Durch die Beseitigung der Waffen-SS und der neuen Elite erhofften sich die Junker und Militärs eine Wiederherstellung ihrer alten Machtposition in der Armee. Die Hitlerjugend sollte in „Staatsjugend“ umbenannt und vom Militär übernommen werden [374], um damit eine weitere Stütze der nationalsozialistischen Massenpolitik zu beseitigen.
Die staatspolitischen Forderungen der Attentäter prägte auch die Geisteswelt des deutschen Kaiserreiches: [375] Die Macht sollte eine monarchistische Staatsführung übernehmen, man war sich noch nicht ganz sicher, ob ein Erb- oder Wahlkaiser. Außenpolitisch zeigte man ebenso wenig Bescheidenheit. Die Wiederherstellung der Grenzen Deutschlands von 1914 gegenüber Polen, Belgien und Frankreich sowie eine „führende Stellung Deutschlands auf dem Kontinent“ und Kolonien in Afrika schwebten den Attentätern vor. Diese Forderungen konnte keiner der Alliierten akzeptieren. Ebenso hinderlich für einen Separatfrieden im Westen waren die Aufrufe, den Krieg bis zu einem Friedensangebot weiter zu führen. Die Westmächte unterstützten den Widerstand des 20.Julis nicht und beharrten auf der bedingungslosen Kapitulation.
Die sozial- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen gingen kaum über die junkerliche Agrarideologie hinaus. In dem von Popitz verfaßten „Vorläufigen Staatsgrundgesetz“ wurde die Landwirtschaft als „bedeutendste Kraftquelle des Volkes“ bezeichnet. [376] Auch Schulenberg führte aus: „Das deutsche Volk muß weniger aus Gründen der nationalen Sicherheit als aus Gründen der Gesunderhaltung einen lebensfähigen Bauernstand haben“ [377] und knüpfte damit unmittelbar an die Blut- und Bodenideologie an. Der Graf von Schulenberg war es auch, der vorschlug, die zerstörten Großstädte als Quellen des geistigen, kulturellen und biologischen Verfalls des deutschen Volkes nach dem Krieg nicht wieder aufzubauen. [378] Eine Ausnahme stellte bei dieser reaktionären Industriefeindlichkeit der Wirtschaftspolitiker Goerdeler dar, der für die kleinbäuerliche Besiedlung Ostelbiens auf Kosten des Großgrundbesitzes eintrat. [379] Auch wenn der Grad der Ablehnung der Industriegesellschaft bei den Verschwörern verschieden ausgeprägt war, so traten sie doch alle gegen die Verstädterung der Gesellschaft und für den Erhalt eines starken „Bauerntums“ ein.
Die Arbeiterklasse spielte in den Forderungen der Monarchisten keine Rolle. Goerdeler wandte sich sogar ausdrücklich gegen einen „New Deal“ mit der Arbeiterklasse. Die Politik der sozialen Zugeständnisse der Nazis sollte durch die Klassenkonfrontation ersetzt werden.
Ende der alten Elite
Das Programm des 20.Juli bot der deutschen Bevölkerung nichts. Der Putschversuch war der letzte Aufschrei der alten Elite gegen ihre Entmachtung. Das Scheitern und die brutale Zerschlagung war, wie der Soziologe Dahrendorf feststellte, „das Ende einer deutschen Elite“. Angesichts des Programms und der sozialen Herkunft des Widerstandes vom 20. Juli sind zwei Vorstellungen völlig unsinnig: Der 20.Juli war weder ein Aufstand für die Demokratie, wie es die Parteien der Bundesrepublik gerne verbreiten, noch war es ein innerfaschistischer Machtkampf, wie es Teile der Linken sehen.
Der Aufstand der Junker scheiterte vor allem deswegen, weil die alte Elite keine soziale Basis in der Bevölkerung besaß. Die deutsche Bevölkerung verband die alten Militärs mit dem Scheitern der Weimarer Republik und des Kaiserreiches. Mit den Interessen dieser Aristokraten hatten sie nichts gemeinsam. Die soziale Öffnung der Gesellschaft rückgängig zu machen, lehnte die Mehrheit der Deutschen ebenso ab wie den „Führer“ zu beseitigen. Auch nach dem 20.Juli führten die deutschen Soldaten den Krieg für den Nationalsozialismus entschlossen weiter.
Zum Kapital hatten die Attentäter kaum Kontakte. Schacht klagten die Nazis an und brachten ihn ins KZ, obwohl ihm nichts nachzuweisen war. Albert Speer berichtete nach dem Krieg, daß die SS in diesem Zusammenhang Prozesse gegen führende Industrielle plante. [380] „Die Partei sei der Überzeugung, daß meine engste Umgebung „reaktionär, wirtschaftlich einseitig gebunden und parteifremd“ sei. Darüber hinaus wäre die von mir aufgebaute Selbstverantwortung der Industrie und mein Ministerium ‘als Sammelbecken der reaktionären Wirtschaftsführer oder gar als parteifeindlich’ bezeichnet worden.“ [381] Himmler konnte sich aber nicht durchsetzen, und der Schlag gegen die Industriellen blieb aus.