Kritik an Kolja Wagner

Von Alfred Schröder

Vorbemerkung

Kritiken an einem Text werden für Außenstehende schwer verständlich, wenn dem interessierten Leser der Ursprungstext nicht im Original vorgelegt wird. So erscheint der Kritiker schnell als eine Person, die wesentliche Argumente seines Kontrahenten ignoriert oder die Position des Kritisierten absichtlich in ein falsches Licht rückt.

Heiner und ich haben unsere Kritik verfasst, als eine Reihe von Ausführungen unseres Kontrahenten, die dem Leser jetzt als sein „Ursprungstext“ vorliegen, schlichtweg nicht bekannt waren. So findet sich z. B. im Originaltext des Genossen Wagner von dem gesamten Absatz: „Die Grundzüge des leninschen Parteistaates“ genau ein Satz, nämlich der erste. Von dem Absatz „Die Geheimhaltung und der Führungswechsel“ finden sich im Original genau zwei Sätze, der erste und der letzte.


Hallo Kolja,

deine Antwort auf meine SARS-Notiz macht es in der Tat möglich, den von dir angesprochenen „Verständigungsproblemen“ zwischen uns auf den Grund zu gehen.

Du schreibst: „SARS ist eine bis vor kurzem unbekannte Krankheit, für die es keine Medikamente gibt. Dass die Krankheit ausgebrochen ist, hat wenig mit einem Gesellschaftssystem zu tun.“ Dass Viren unabhängig von dem jeweiligen konkreten Gesellschaftssystem existieren, dürfte auch in unseren Reihen weitgehend unbestritten sein. In welchem Umfang die Existenz von Viren zu Erkrankungen führt, hat allerdings bereits beträchtlich mit dem jeweiligen Gesellschaftssystem zu tun (Bildung, Hygiene, Gesundheitsvorsorge). Wie aus diesen Erkrankungen Epidemien und Seuchen werden, welchen Umfang sie annehmen und wie viele Opfer aus welchen gesellschaftlichen Schichten sie fordern, das ist eindeutig gesellschaftlich bedingt.

Die Ausbreitung von SARS im heutigen China von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen loslösen zu wollen, stattdessen vom „Ausbrechen“ einer „unbekannten Krankheit“ zu schreiben, ist nicht nur eine sprachliche Verdunkelung des Problems, sondern verweist auf den Kern unserer „Verständigungsprobleme“. Deine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse in China feiert die Fortschritte der kapitalistischen Modernisierung Chinas (fast allen geht es besser – siehe deinen Artikel auf unserer Internet-Seite) und lastet die gesellschaftlichen Folgekosten, die die breiten Massen zu tragen haben, der Vergangenheit und dem Maoismus an. Genau dieses Modell wendest du auch auf die Ausbreitung der SARS-Seuche an.

Ursache des SARS-Ausbruchs und seiner Ausbreitung sind bei dir nicht die Verschlechterung der materiellen Lebensumstände für bedeutende Teile der Bevölkerung, die Aufhebung der medizinischen Grundversorgung für die gesamte ländliche Bevölkerung, die Entstehung eines recht- und versorgungslosen Wanderproletariats, sondern das Fehlen bürgerlicher Freiheiten, was in den Überbleibseln des Maoismus (Leninismus) begründet liegen soll. Die Ursachen der Ausbreitung der Seuche liegen für dich in der durch die Kommunisten geprägten Vergangenheit Chinas und nicht in der kapitalistisch bestimmten Gegenwart des heutigen China. Du betreibst die Reinwaschung der kapitalistischen Modernisierung durch die Anklage der revolutionären Vergangenheit.

„Ich meine, die Krankheit hat sich in einen solchem Tempo ausgebreitet, weil die chinesische Regierung ein schlechtes Krisenmanagement betrieben hatte. Das hat nicht nur mit persönlichem Versagen, sondern auch mit den Systemnachteilen des leninistischen Parteienstaates zu tun“, so Kolja. Ich dagegen meine, dass die Krankheit sowohl was ihren Ursprung betrifft, als auch was ihre Ausbreitung betrifft, Produkt der Lebensumstände (der gesellschaftlichen Verhältnisse) bestimmter Schichten der chinesischen Bevölkerung ist. Soweit im Allgemeinen und Abstrakten. Nun zu den konkreten Tatsachen über Ursachen und Ausbreitung von SARS. Die Ärzte-Zeitung schreibt dazu im Netz unter der Überschrift „Zwischen Abfall und Autobahnen züchten die Menschen Geflügel – Hühner werden auch in Wohnungen gehalten“:

„SARS stammt aus der chinesischen Provinz Guangdong (Kanton). Hier soll das Virus als Mutante von Tieren auf Menschen übergegangen sein. Die ersten Patienten waren denn auch Geflügelverkäufer und Köche, so der ‚New Scientist‘. Warum konnte das ausgerechnet in dieser Region passieren?

Das Perlflussdelta in Guangdong, der Nachbar-Provinz von Hongkong, ist nicht nur Chinas größtes Industriegebiet, sondern auch eine Hauptregion der Geflügelzucht. Große Mengen von Hühnern, Enten und Tauben werden hier gezüchtet und an Restaurants verkauft.

Das Entscheidende: Die Menschen leben mit den Tieren auf engstem Raum. Die Städte wachsen, es gibt kaum Platz, so halten viele Menschen das Geflügel, das sie züchten, in den Hausfluren oder sogar in den Wohnungen. ‘Das Perflussdelta in der Provinz Guangdong mit seinen Textil-, Spielzeug- und Chipfabriken ist mittlerweile nicht nur Werkstatt der Welt, sondern auch Brutstätte von Seuchen’, schreibt der Spiegel.

Noch dazu ist es in der ganzen Gegend schmutzig. In der Region von Foshan, wo die ersten Patienten registriert wurden, stoßen Fabriken schwarzen Rauch aus und türmt sich hinter Wohnhäusern der Müll auf. Die Felder werden immer kleiner, denn die Industrie breitet sich aus. Über die Äcker schwingen sich neue Autobahn-Brücken. Zwischen Abfall und Fabriken bauen die Menschen ihr Gemüse an und züchten sie das Geflügel, von dessen Verkauf sie leben.

Dazu kommt eine schlechte medizinische Versorgung auf dem Land. Bauern, die krank geworden sind, seien wohl gar nicht oder zu spät zum Arzt gegangen und hätten ihre Familien, ja ganze Dörfer angesteckt, befürchtet die Weltgesundheitsorganisation. (ug)“

Soweit und fast völlig wertneutral ein Fachorgan des ständischen Kleinbürgertums zum Ursprung der Seuche. Die Darstellung, die eigentlich die sozialen Verhältnisse ausklammern will, schildert sie recht deutlich. Es bedarf also schon einer etwas stärker ausgeprägten antikommunistischen Überzeugung als sie in der deutschen Ärzteschaft vertreten wird, um den leninistischen Parteistaat als Verursacher der massiven Ausbreitung der Krankheit dingfest zu machen.

Aber blicken wir noch etwas genauer in die sozialen Verhältnisse, speziell auf die konkreten Lebensumstände der Arbeiter in der Ursprungsprovinz der Seuche. „Die Zeit schreibt: ‘Inmitten feuchter Sumpfgebiete, in denen sich Wasserbüffel an Bananenstauden scheuern, stehen hier die Werkbänke des Weltkapitals – nach außen hin abgezäunte, innen blank gefegte, vom Geruch von Desinfektionsmitteln erfüllte Fabrikhallen für alle denkbaren Produkte der modernen Warengesellschaft. Ob Textilien für Adidas oder Lederwaren für Gucci – Guangdong dient allen als Zulieferfabrik. Ob Computer-, Handy- oder Elektronikhersteller – alle benötigen die Arbeitskraft des neuen Wanderproletariats der Volksrepublik, das an der Landstraße (von Guangzhou) nach Heyuan seine Zelte aufgeschlagen hat.’ Die Arbeiter bekommen Stundenlöhne von 30 bis 50 Cent. In den Baracken, in denen sie leben, ist ‘die Luft modrig und feucht, die Wände sind mit Moos bedeckt, es gibt drei Wasserhähne für 300 Arbeiterinnen und zwei Plumpsklos’.

Eine Seite ist, dass derartige hygienische Bedingungen immer die Basis für sich rasch verbreitende Epidemien liefern. Die andere Seite ist das extrem enge Zusammenleben von Mensch und Tier in den neuen südchinesischen Ballungszentren. Auf den zahlreichen Straßenmärkten, aber auch in häuslichen Tierzuchten, die einen Teil des Lebensunterhaltes sichern helfen, kann der Austausch von Genen zwischen verschiedenen Virustypen leicht vonstatten gehen. Auch dass in Südchina nach Aussage eines Kommentators ‘alles gegessen wird, was Muskeln und Schleimhäute hat’, trägt dazu bei, dass es zwischen tierischen und menschlichen Viren zur Rekombination kommen kann.

Das Auftreten der Krankheit kann somit nicht einfach als mysteriöses oder zufälliges Unglück abgetan werden. Eine detaillierte Untersuchung über Herkunft und Verbreitung einer Epidemie muss immer die Umstände berücksichtigen, die ihre Entwicklung begleiteten. Von ihrem Ursprung an war die SARS-Epidemie verbunden mit den sozialen Verhältnissen, in denen ihr Virus entstand und die Krankheit ausbrechen und sich verbreiten konnte. Auch vor Aufdeckung dieser Zustände schreckte die chinesische Elite zurück, als sie Ausmaß und Entstehung der Krankheit vertuschen wollte.“

Soweit Andreas Reiss in seinem Artikel „China und die SARS-Epidemie“ auf der World Socialist Web Site. Er behandelt ebenso ausgiebig wie die sozialen Verhältnisse die Vertuschung der Seuche durch die chinesische Führung. Anders als Kolja führt er aber die Vertuschung auf dieselben sozialen und politischen Ursachen zurück wie die Entstehung und Ausbreitung der Seuche: nämlich auf die Einführung der freien Marktwirtschaft und das dadurch hervorgerufene Massenelend. So schreibt Reiss: „Die Angst vor einem ‘Vertrauensverlust’ in den Wirtschaftsstandort China könnte der herrschenden Elite tatsächlich einen gehörigen Schrecken einjagen. Schließlich ist gerade Guangdong, die Provinz, die das SARS-Virus hervorbrachte, ein Musterbeispiel für das so genannte chinesische ‘Wirtschaftswunder’. Sie illustriert aber auch anschaulich das Massenelend, das durch die Öffnung der Region für internationales Kapital und die Gesetze des ‘freien Marktes’ geschaffen wurde. Da die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse seit Einführung der Elemente des ‘freien Marktes’ um 23 Prozent fielen, erfuhr die Provinz einen enormen Bevölkerungszuwachs aus ländlichen Gebieten. Diese Masse an billigen Arbeitskräften steht den sich hier ansiedelnden transnationalen Konzernen zur freien Verfügung. Heute werden von dort aus beispielsweise 40 Prozent der Weltproduktion von Mikrowellenherden exportiert. Die Löhne sind billig, der Durchschnitt beträgt 60 Cent pro Stunde, wird jedoch auch oft bei weitem unterschritten.“

Von deiner Theorie (schlechtes Krisenmanagement bedingt durch die Systemnachteile des leninistischen Parteienstaates) grenzt sich Reiss explizit ab: „Doch kann man nicht einfach von Unfähigkeit oder Versagen sprechen. Es gibt wohl verschiedene Gründe für diese Verschleierungspolitik. (…)“ Reiss führt drei Gründe an: „Die Angst vor einem Vertrauensverlust in das ‘Wirtschaftswunderland’ China“, die eklatanten Defizite des chinesischen Gesundheitssystems („Das chinesische Krankenversicherungssystem befindet sich im Umbruch. Ein böses Gerücht in der Hauptstadt besagt, dass SARS bisher vor allem alte Menschen und Kinder tötet, weil eben diese Gruppen häufig nicht ausreichend krankenversichert sind.’ Eine SARS-Behandlung kostet in China umgerechnet 22.000 Euro. Übersetzt auf die finanziellen Möglichkeiten eines chinesischen Durchschnittsbürgers bedeutet dies den wirtschaftlichen Ruin seines ganzen Familienverbandes.’ Eine Krankheit wie SARS wirft so ein Schlaglicht auf die tatsächlichen Verhältnisse im chinesischen Gesundheitssystem.“) sowie die Absicht, den Volkskongress in Peking ohne Seuchenwarnung und Imageverlust durchführen zu können. Letztlich lassen sich diese drei Gründe auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Die chinesische Führung sorgte sich um die Aufdeckung der sozialen und politischen Folgen der kapitalistischen Modernisierung Chinas.

Die bürgerlichen Freiheiten

Das Heilmittel für die gesellschaftlichen und politischen Krankheiten Chinas siehst du in der Gewährung der bürgerlichen Freiheitsrechte, speziell der Presse- und Diskussionsfreiheit. Dazu wäre vieles zu sagen – Petra hat dazu ja bereits einige Hinweise gegeben – da ich aber bereits drei Seiten mit SARS gefüllt habe, will ich nur ein Problem aufwerfen: Wie soll in China (man könnte beliebig Russland, Indien, Irak etc. an die Stelle Chinas setzen) eine bürgerliche Demokratie entstehen, ohne dass es eine bürgerliche Gesellschaft gibt?

Die bürgerliche Gesellschaft ist Produkt einer mehrhundertjährigen gesellschaftlichen Entwicklung Westeuropas und einiger seiner Siedlungskolonien. Für den Rest der Welt ist dieses Modell ein Fremdkörper, der weder gesellschaftliche Grundlagen hat noch außerhalb der Intelligenz größere politische Unterstützung findet. Für den europäischen Osten (jenseits von Tschechien und Polen) bedeutete die Einführung der Demokratie und der Pressefreiheit, dass organisierte kriminelle Vereinigungen Parteien und Zeitungen gründeten und um die Staatsmacht kämpften. Gesellschaft und Staat unterliegen in diesen Ländern einem fortwährenden Erosionsprozess.

Sich heute auf dem Boden dieser Erfahrungen einfach hinzustellen und den Export europäischer politischer Modelle für den Rest der Welt zu empfehlen bedeutet, sich auf das Niveau ein George W. Bush zu begeben.

Zum Schluss: Der „leninistische Parteienstaat“

Schon der Begriff hat es in sich. Du musst ihn selbst erst erklären. „Unter diesem Staat verstehe ich den in den 20er und 30er Jahren in der SU etablierten zentralistischen Einparteienstaat, dessen Modell in allen sozialistischen Staaten übernommen wurde.“ Dass du den Begriff erklären muss, liegt auf der Hand. Der in der Sowjetunion entstandene Staat hatte weder etwas mit der leninschen Parteitheorie (siehe: „Was tun“, „Ein Schritt vorwärts, zwei zurück“), noch mit seiner Staatstheorie (siehe: „Staat und Revolution“) zu tun. Der Begriff wird einfach einer bestimmten Kategorie bürgerlicher Geschichtsschreibung entnommen und der Wirklichkeit übergestülpt. Das Entstehen der sowjetischen Staates wird dabei nicht aus den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen Russlands hergeleitet, sondern aus den Machenschaften und Absichten einer handvoll politischer Führer. Diese Geschichtsschreibung ist weder marxistisch noch entspricht sie dem heutigen Stand der bürgerlichen Forschung. Sie ist Produkt einer antikommunistischen Ideologie aus den 50er und 60er Jahren.

Warum also mit einem Begriff hantieren, der unwissenschaftlich und ideologisch belastet ist, wenn man sich nicht selbst zutiefst mit dieser Ideologie identifiziert?

Ebenso ist es sachlich falsch zu unterstellen, dass das sowjetische Modell „in allen sozialistischen Staaten übernommen wurde“. Dies kann man nur behaupten, wenn man von der wirklichen staatlichen Verfasstheit und den jeweils vorhandenen gesellschaftlichen Grundlagen der anderen osteuropäischen Länder des ehemaligen Warschauer Vertrages (nur als ein Beispiel) völlig abstrahiert, und die Ideologie des Leninismus – zu der sich die jeweiligen kommunistischen und Arbeiterparteien (so wie sie ihn verstanden) bekannten – als das wahrhaft Staaten bildende betrachtet. Wie bereits gesagt, dies alles ist nur schlechte ideologische Geschichtsschreibung über die die bürgerliche Forschung seit mehr als zwei Jahrzehnten hinaus ist. Attraktiv ist eine solche Ideologie für vom Marxismus bekehrte Kleinbürger, wie sie seit Jahren in Frankreich (Glucksmann und Co.) ihr Unwesen treiben.

Letzte Änderung: 21.03.2016